Die etwa lebensgroße Statue (Höhe 1,55 m) aus parischem Marmor wurde 1874 zusammen mit anderen Skulpturen auf dem Esquilin im Gebiet der Horti Lamiani gefunden, die an die Gärten des Maecenas angrenzten. Doch läßt sich aus diesen Angaben ihre ursprüngliche Aufstellung nicht erschließen.
Die Statue ist fast vollständig erhalten. Es fehlen lediglich beide, in der Antike angestückte Arme sowie ein Teil der Haarbinde. Außer der Nasenspitze sind nur noch Kleinigkeiten ergänzt. Die Statue ist kein Original, zwei Repliken sind bekannt: ein Torso im Louvre und eine heute verschollene, ehemals im römischen Kunsthandel befindliche Kopie, von der aber nur die Stütze sowie die Füße erhalten blieben.
Die nackte, nur Sandalen tragende Göttin ist als kaum erwachsene junge Frau dargestellt. Ihre schlanke Gestalt entwickelt sich aus dem engen Stand, der rechtes Stand- und linkes Spielbein kaum unterscheidet. Entsprechend vermeidet die Hüftpartie einen ausgeprägten Kontrapost, was durch das weiche, ohne kontrastreichere Modellierungen geformte Inkarnat noch betont wird. Die Neigung der rechten Schulter und die ihr folgende Kopfbewegung geben dieser Seite der Figur ein Übergewicht, dem die niedrige Stütze kaum entgegenwirkt. Wie in ein achsial-symmetrisches System eingebunden erscheinen die ebenmäßigen Gesichtszüge der Göttin und verleihen dem Ausdruck eine eher ideale denn lebendige Schönheit. Die strenge, über der Stirn in kleinen Löckchen, sonst aber in feinen Strähnen geordnete Frisur ist am Hinterkopf zu einem großen Knoten hochgesteckt, den die teilweise noch erhaltene linke Hand umgreift. Ein Ende der mehrfach um den Kopf gelegten Binde hatte die Venus mit der rechten Hand gefasst, um sie fest zu ziehen. Die Arme waren angewinkelt, der linke stärker als der rechte, der nach vorn geführt gewesen sein muß, damit die Göttin die beschriebene Tätigkeit ausführen konnte.
Die Darstellung einer sich eine Binde um den Kopf legenden Figur ist nicht neu. Die Großplastik überliefert sie am besten in der Statue des Diadumenos, einem von dem berühmten Bildhauer Polyklet im letzten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. geschaffenen Bronzewerk, das in verschiedenen Marmorkopien erhalten ist, darunter die qualitätvolle Replik aus Delos im Athener Nationalmuseum (Abguß Inv. 1173). Das dem Diadumenos verwandte Motiv der esquilinischen Göttin, ihre strengen Gesichtszüge und die klassischen Vorbildern angeglichene Frisur (vgl. u.a. die sogenannte Penelope, Abguß DL 26), haben die ältere Forschung dazu geführt, sie zu den Bildwerken des 5. Jhs. zu zählen, eine Datierung, die längst zugunsten einer weitaus späteren korrigiert wurde. Das Hauptargument, das gegen die Entstehung der Venus im 5. Jh. v. Chr. spricht, betrifft die Nackheit; denn die erste unbekleidete weibliche Marmorstatue schuf der attische Bildhauer Praxiteles um 340/330 v. Chr. mit seiner im kleinasiatischen Knidos aufgestellten und von antiken Schriftstellern hochgerühmten Aphrodite. Auch dieses Werk ist nur in römischen Kopien überliefert (Abgüsse Th 160, Th 170 und Inv. 912). Sie stellen die Göttin im Typus der sog. Pudica dar. Hellenistische Varianten wie die Kapitolinische und die Mediceische Venus rezipieren diese Statue (Abgüsse Th 149 und Inv. 360, Th 100). Ein Vergleich dieser drei Aphrodite-Statuen mit der esquilinischen Venus zeigt, daß jene Figuren sich durch eine Dreidimensionalität des Körpers auszeichnen, die unter jedem Blickpunkt beim Umschreiten wirksam bleibt. Die esquilinische Venus hingegen ist auf die Vorderansicht konzipiert, in der allein sich Aufbau und Bewegung der Figur erschließen, während die Seitenansichten den Eindruck geringer Tiefe vermitteln.
Die Fassadenhaftigkeit der Figur ist charakteristisch für die Plastik der spätesten Phase des Hellenismus. Ihr folgt die Venus vom Esquilin und gibt sich damit als ein Werk des 1. Jhs. v. Chr., vielleicht schon dessen zweiter Hälfte, zu erkennen. Dieser Zeit ist auch die Anlehnung an klassische Vorbilder geläufig, was mit vielen anderen Beispielen – dem sogenannten Dornauszieher (Abgüsse Th 72, vgl. Th 1) – belegt werden kann. Traktate Ciceros, Plinius’ des Älteren, besonders aber die Rhetorica des anonymen Auctor ad Herennium (1. Jh. v. Chr.) unterrichten uns über den eklektischen Kunstgeschmack des Späthellenismus. Ausgehend von Anweisungen für einen Rhetor, der sich vorbildhafter Redewendungen bedienen soll, empfiehlt der Auctor dem bildenden Künstler ein ähnliches Verfahren. Er soll den jeweils vollkommensten Teil aus verschiedenen Vorbildern wählen, um ein vollendetes, neues Werk zu schaffen. Unsere Venus bietet eine treffliche Anschauung für die Anwendung dieser Kunsttheorie. So haben einige Betrachter die Ansicht vertreten, die Statue sei eine Klitterung zweier verschiedener Werke. Besonders scheinen die Details der Venus idealer Schönheit im Sinne des Eklektizismus zu entsprechen. In der Gesamtheit wirkt die Statue jedoch gekünstelt und maniriert, etwa die Kopfneigung, die durch das Anlegen der Binde nicht motiviert ist. Inhalt und Form bilden keine Einheit. Die Form dominiert, ist zum Selbstzweck geworden und entleert den Schönheitsbegriff.
Noch ein Wort zur Benennung der Statue vom Esquilin: Seit ihrer Auffindung sind mehrere, mit Recht vergessene Vorschläge gemacht worden, und es scheint fraglich, ob die Taufe der Statue auf die berühmte Kleopatra VII., wie sie jüngst wiederholt wurde, die Identifizierung mit der Liebesgöttin ersetzen wird. Für Venus spricht neben der Nacktheit die Handlung des Umwindens des Haares mit einer Binde, welche die Gebärde der Aphrodite Anadyomene (der aus dem Meer aufsteigenden Göttin, die sich das nasse Haar ausdrückt) umwandelt. Auch die Sandalen, die unsere Venus trägt, dürfen bei der Benennung nicht unbeachtet bleiben. Dieses Schuhwerk spielt bei hellenistischen Aphrodite-Bildern eine Rolle, welche die Göttin beim Ausziehen einer Sandale zeigen, – ein altes, auf Vasenbildern bereits des 5. Jhs. v. Chr. in Hochzeitsszenen erscheinendes Motiv. Seine erotische Bedeutung führt die delische Gruppe, Aphrodite und Pan (s. Abb.), in derber Weise vor Augen: Die Liebesgöttin droht dem zudringlichen Pan mit ihrer Sandale einen kräftigen Schlag zu versetzen. Freilich sind die Sandalen unserer Venus nur noch Attribut und gänzlich sinnentleert.
Am rechten Bein unserer Statue ist eine Stütze angebracht, bestehend aus einem Kasten gefüllt mit Blumen, vielleicht Rosen. Darauf steht eine Vase, deren keulenartige Form an einen Baitylos (anikonisches Steinmal) erinnert, darüber liegt ein Gewand. Das Gefäß ist mit einem Muster großer, lanzettförmiger Blätter überzogen und von einer Schlange umwunden. In diesen Zeichen hat man Anspielungen auf den Isis-Kult gesehen, und unsere Venus mit der ägyptischen Liebesgöttin identifiziert, ein für den Hellenismus nicht ungewöhnlicher Synkretismus. Auch die Anlehnung an die Aphrodite Anadyomene spräche für eine Beziehung zu Ägypten, stammen doch die ältesten Darstellungen der Göttin in dieser Aktion aus Alexandria. Freilich darf man sich fragen, ob unsere Statue samt Stütze nicht ein Produkt der Phantasie eines aus verschiedenen Quellen schöpfenden Bildhauers ist, ohne daß der Komposition eine tiefere symbolische Bedeutung unterlegt werden muß. Die Venus vom Esquilin bleibt also ein Werk, das zu mannigfachem Nachdenken anregt.
H. Stuart – M. A. Jones, A. Catalogue of Ancient Sculpture Rome. Palazzo dei Conservatori (1926) Sala dei Orti Lamiani Nr. 37 Taf. 54;
W. Helbig – H. Speier (Hrsg.), Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom II (41966) Nr. 1484 (K. Parlasca);
R. Ch. Häuber, KölnJbVFrühGesch 21, 1988, S. 35ff. (hadrianische Datierung);
P. Moreno, Scultura hellenistica I. II. (1994) S. 746ff. (Benennung Kleopatra VII.);
B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (2001) S. 211ff. Taf. 205-206 (Literaturangaben, sehr gute Abbildungen; Benennung wie Moreno);
LIMC VIII (1997) Nr. 138 Taf. 142.
Zum Sandalenmotiv: S. Karusu, AntK 13, 1970, S. 34ff. bes. 38ff.
Schriftquellen: J. Overbeck, Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen (reprint 1971);
Auctor ad Herennium, Rhetorica, Lateinisch/Deutsch, Hrsg. T. Nüßlein (1994) IV;
dazu: F. Preißhofen/P. Zanker, Dialoghi di Archeologia 4/5, 1970/71, 100ff.;
M. Fuchs, In hoc etiam genere graeciae nihil cedamus (1999) 75ff. bes. 77f. (mit weiterer Literatur);
Cicero, De inventione, Lateinisch/Deutsch, hrsg. und übersetzt von T. Nüßlein (1998).