Seit Bernoulli (1873) ist der Begriff „Venus pudica“ (schamhafte Venus) in der archäologischen Forschung zum Fachbegriff geworden. Er bezeichnet Darstellungen nackter Aphroditen, die mit einer Hand den Schoß, mit der anderen die Brüste bedecken. Unser Museum besitzt drei Statuen dieser Gruppe, die wiederum zwei verschiedenen Typen zuzurechnen sind.
Der Typ der Kapitolinischen Aphrodite wird durch die namensgebende Statue aus dem Museo Capitolino in Rom repräsentiert. Mit nur geringfügigen Ergänzungen ist diese die vollständigste unter den über 100 Repliken dieses Statuentypus. Sehr große Sorgfalt hat der hadrianische Kopist auf eine naturnahe Wiedergabe des Karnats verwendet, so etwa auf die Grübchen und Falten, die sich im gestauchten Bauchfleisch bilden.
Der Typ Medici ist in unserem Museum durch zwei verschiedene Statuen vertreten. Die namensgebende Replik aus der römischen Sammlung Medici, heute in Florenz, galt lange Zeit als vollständigste und getreueste Wiederholung des Originals, obwohl beide Arme ergänzt sind und der Kopf zwar zugehörig, aber modern aufgesetzt ist. 1953 erst wurde die New Yorker Statue publiziert, deren ungebrochen aufsitzender Kopf die Rekonstruktion der Florentiner Replik bestätigte. In der Wiedergabe des Karnats erweist sich die Kopie des Metropolitan Museum als die qualitätvollere. Die weiche Bauchpartie ist hier nahezu greifbar gestaltet, während sie an der Florentiner Replik geglättet und geschönt wurde.
Darüber hinaus zeigt der Vergleich der beiden Repliken, wie frei die Kopisten in der Gestaltung der Statuenstütze verfuhren. Hier ist es ein Delphin, dort ein Baumstamm mit einem Delphin, auf dem zwei Eroten reiten. Diese Variationsbreite, die auch an den Repliken der Kapitolinischen Aphrodite zu beobachten ist, legt den Schluß auf ein Bronzeoriginal nahe, das keiner Stütze bedurfte.
Im Vergleich mit der Kapitolinischen Aphrodite ist die Aphrodite Medici schlanker und mädchenhafter, und ihre Körperhaltung ist entspannter. Statt die Hand auf die Brust zu pressen, beschreibt der rechte Arm einen Bogen um den Oberkörper, und der Kopf ist zur Seite erhoben. So öffnet sich die Aphrodite Medici stärker nach außen als die ganz in sich abgeschlossene Kapitolinische Aphrodite.
Bis heute ist in der Forschung umstritten, in welchem Verhältnis die beiden Statuentypen zueinander stehen. Hängen beide von einem unbekannten gemeinsamen Vorbild ab? Oder ist die Aphrodite Medici eine Variante der Kapitolinischen Aphrodite bzw. umgekehrt?
Gegen die erstgenannte Möglichkeit sprechen grundlegende Unterschiede in Körperhaltung und Proportionen (s.o.). Auch die zweite These, die Aphrodite Medici sei als das Vorbild der Kapitolinischen anzusehen, ist nicht haltbar. Die Archäologen, die diese Meinung vertreten, datieren die Aphrodite Medici in das 4. Jh.v.Chr. Das ist aus stilistischen Gründen ausgeschlossen (s.u.).
In jüngster Zeit mehren sich mit gutem Grund die Stimmen, welche eine Datierung der Aphrodite Medici in den späteren Hellenismus befürworten. Für diesen Ansatz sprechen die mädchenhaft schlanken Körperformen, die man bei anderen Darstellungen jugendlicher Göttinnen im späten 2. oder frühen 1. Jh.v.Chr. wiederfindet. Auch die gezierte Armhaltung, die nur noch als Andeutung eines Schamgestus zu werten ist, entspricht ganz dem rokokohaften Geschmack der späthellenistischen Zeit.
Die Kapitolinische Aphrodite hingegen preßt die Hände auf ihren Körper und wendet den Kopf ab, als müßte sie sich tatsächlich vor den Blicken eines Beobachters schützen. In dessen Rolle schlüpft der jeweilige Betrachter, der so in einen „Dialog“ mit der Statue tritt. Dieses direkte Ansprechen und Einbeziehen des Publikums ist das Anliegen vieler Statuen des 3. Jh.v.Chr. Auch die Trunkene Alte (Glyptothek Inv. 437, Abguß Th 51) und der Faun Barberini (Glyptothek Inv. 218) wirken auf den Betrachter unmittelbar präsent. Genau wie diese wird auch die Kapitolinische Aphrodite in einer aus dem Leben gegriffenen Situation gezeigt. War die spätklassische Knidische Aphrodite (Abguß Th 160) noch die unnahbare Göttin, die den Betrachter gar nicht zur Kenntnis nimmt, so ist die Kapitolinische Aphrodite wie eine schamhafte Frau dargestellt.
Daß Aphrodite im frühen Hellenismus zwar nackt, aber nie ohne Schamgesten dargestellt werden konnte, bleibt für uns heutige Betrachter zunächst unverständlich. Hier offenbart sich die Ambivalenz des Aphroditen- und damit Frauenbildes dieser Zeit. Während teure und bekannte Hetären bei den Männern wegen ihrer Bildung und Selbständigkeit beliebt waren und auch in der Öffentlichkeit auftraten (Phryne, die Geliebte des Praxiteles, einmal sogar nackt), führten die „anständigen“ Frauen ein Leben hinter verschlossenen Türen. In der Kluft zwischen diesen divergierenden Idealen tritt Aphrodite, deren Wesen einerseits die Erotik ist, die andererseits jedoch als Göttin zum Kreis der ehrbaren Frauen gehört. So wird sie zwar nackt, aber mit Schamgestus dargestellt, denn: „Eine gute Frau legt Sittsamkeit an, wenn sie nackt ist.“ (Plutarch, mor. 139c,10).
Dieses Tabu löste sich erst in der Krisenzeit des späten Hellenismus, die es Frauen wiederholt ermöglichte, sich wichtige Stellungen in der Politik zu erobern. Seit dem Ende des 2. Jh.v.Chr. kennt man daher Darstellungen selbstbewußter und völlig unbefangener nackter Frauen (etwa der Aphrodite Anadyomene, die sich nach dem Bade die Haare auswringt). Ganz im Sinne dieser Zeit übersetzt die Aphrodite Medici die mittlerweile überholten Schamgesten anspielungsreich in ein Motiv reizvoller Koketterie.
D.M. Brinkerhoff, Hellenistic Statues of Aphrodite (1978) 30. 32 f.;
B.M. Felletti Maj, ArchCI 3, 1951, 33 ff.;
Helbig4 Ir (1966) Nr. 1277 (H.v.Steuben);
LIMC 11,1 (1984) 52 f. s.v. Aphrodite (A. DeIivorrias);
W. Neumer-Pfau, Studien zur Ikonographie und gesellschaftlichen Funktion hellenistischer Aphrodite-Statuen (1982) bes. 62 ff., 183 ff.;
B. Vierneisel-Schlörb, Glyptothek München. Klassische Skulpturen (1979) 334 f.;
zur Rolle der Frau in der Antike: J. Vogt, Von der Gleichwertigkeit der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft der Griechen, in: Sexualität und Erotik in der Antike, WB WdF Bd. 605 (1988) 118 ff.