Die Statuette ist eine von insgesamt fünf, nahezu gleichgroßen Repliken, die unter Archäologen stets die Vermutung auslösten, bei dem Dargestellten müsse es sich um eine bekannte Persönlichkeit handeln. Das verlorene Original wird wohl lebensgroß gewesen sein. Deren Identifizierung mit einem berühmten Philosophen wurde denn auch immer wieder versucht. Wesentliche Anhaltspunkte ihrer Benennung lieferte dabei die mit Kopf fast vollständig erhaltene Bronzereplik in London, in der man die Stoiker Zenon oder Kleanthes erkennen wollte. Der längere und auffälligere Mantel jedoch erinnerte K. Fittschen jüngst an die Statuen der Epikureer.
Der auf lehnlosem Stuhl mit sehr hohem Kissen sitzende Mann hat den schweren Mantel, in den er seinen linken Arm eingerollt hält, fest über die linke Hälfte des Oberkörpers gezogen. Seine abgebrochene Rechte war zum leicht geneigten und zur linken Seite gewendeten Kopf geführt, ohne diesen jedoch zu stützen; sie wurde vielmehr frei über dem Mantelsaum gehalten. Gleichzeitig erscheinen die Füße, die beide mit nahezu ganzer Sohle den Boden berühren, unruhig verschränkt. (Vgl. das Motiv mit der Statue des sogenannten Kopenhagener Dichters, Abguß Inv. 138). Daß der Philosoph in momentaner Gebärde begriffen ist, darauf lassen auch die aufrechte Sitzhaltung, die nach vorne geschobene rechte Schulter, seine in den Mantel greifende Hand sowie die angewinkelten und eben nicht entspannt zum Boden geführten Beine schließen. Zusätzlich verschärft wird dieser Eindruck erregter Beteiligung am Disput durch das fast schonungslos vorgeführte Alter des Sitzenden, die schlaff gewordene Haut mit ihren tief eingegrabenen Falten. Dieses Alter und die sich anbahnende Hinfälligkeit geradezu negierend, hat die heftige Denkanstrengung seinen gesamten Körper ergriffen.
Ein Vergleich der Repliken zeigt, daß neben der römischen Statuette vor allem die Londoner Bronze betrachtet werden muß, um eine Vorstellung vom ursprünglichen Bildnis zu gewinnen. Diese allerdings weicht in entscheidenden Punkten von unserer Figur des Museums Barracco ab. Der Kopist hat der Bronze Zug um Zug die einstige Spannung zugunsten einer gefälligeren Sitzhaltung genommen. Beinahe posierend erscheint sie ganz vor dem Betrachter entwickelt. Eher als bewegte Geste verständlich, winkelt sie den rechten Arm stärker an und führt ihn direkt zum Kopf. In der wichtigen Vorderansicht bleibt ihr Oberkörper allerdings verdeckt, dessen deutliche Alterszüge hier nicht erkennbar sind. Auch die Beine scheinen entspannter zum Boden geführt als bei der Figur aus Rom, so daß die Füße lockerer aufruhen und ihn nur teilweise berühren. Das Sitzmotiv ist insgesamt in eine elegantere Haltung überführt worden, die dennoch Momente der ursprünglichen Bewegtheit enthält. Die in ihrer Haltung und Motivik überzeugendere Komposition der Statuette im Museo Barracco weist diese deshalb als treuere Kopie des Urbildes aus. Ein stilistischer Vergleich mit späthellenistischen Figuren, Fischerbildern (Abguß Inv. 99, 144) oder Frauenstatuen zeigt, daß sie bereits im späteren 2. oder 1. Jh.v.Chr. entstanden sein muß. Die geradlinig eingetragenen Ritzungen der Hautfalten sowie das Interesse an der Darstellung der stofflichen Qualität des Mantels, seiner wollenen Dicke mit den feinen Liegefalten, lassen sich ebenso an Skulpturen dieser Zeit beobachten.
Die Übereinstimmungen der Statuettenüberlieferung mit dem Bildnis des Chrysipp (Abguß Th 28, 38) haben zuerst K. Schefold zur Annahme einer „Stoikerikonographie“ veranlaßt, derzufolge er in dem durch die Statuette überlieferten Typus den zweiten Lehrmeister der Stoa, Kleanthes, erkennen wollte. Neben den deutlichen Altersmerkmalen, die im Kontrast zur momentanen Bewegtheit des Körpers stehen, könnten dafür auch der dicke, grob gewirkte und daher wohl einfache Mantel und die besonders im Vergleich zu den Epikureern bescheideneren Schuhe sprechen. Ob wir etwas Ähnliches wie eine bereits für den Griechen des 3. Jh.v.Chr. zu erkennende Ikonographie stoischer Philosophen annehmen dürfen, scheint allerdings fraglich. Zudem unterscheiden sich beispielsweise die Köpfe der beiden Männer erheblich. Während einzelne Züge im Gesicht des Chrysipp, vor allem sein unregelmäßiger Bartwuchs, deutlich Merkmale von Verwahrlosung und sein Desinteresse an einem gepflegten Äußeren widerspiegeln, sind Haar und Bart unseres Denkers, zumindest des erhaltenen Londoner Kopfes, ordentlich geschnitten und frisiert. Zweifel an der Zugehörigkeit des Londoner Porträts zum Urbild scheinen aufgrund fehlender eindeutiger Altersmerkmale überlegenswert. Die Gemeinsamkeiten beschränken sich auf die beiden Gesichtern abzulesende Anstrengung des Denkens. Eine Bestätigung der „Stoikerikonographie“ scheint daher kaum möglich, und die Benennung der Statuette als Bildnis des Kleanthes hypothetisch. Dennoch legt die Gegenüberstellung mit der an das Ende des 3. oder den Anfang des 2. Jh.v.Chr. zu datierenden Statue des Chrysipp eine in etwa gleichzeitige Entstehung nahe. Da die Figur des Kleanthes weniger blockhaft-streng komponiert ist als jene oder der Fischer-Typus (Louvre-Vatikan; Abgüsse Inv.Th. 99,144) kann eine etwas frühere Datierung, etwa um die Mitte des 3. Jhs., angenommen werden, die der Tendenz des Jahrhunderts entspräche, sich um eine momentartig zugespitzte Erfassung des Darzustellenden zu bemühen.
G. Lippold, Griechische Porträtstatuen (1912) 86 ff.;
ders., RM 33, 1918, 18-21;
K. Esdaile, JHS 34, 1914, 47 ff. Taf. 2-7;
K. Schefold, Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker (1943) 146;
G. Lippold, Die Skulpturen des Vatikanischen Museums III,2 (1956) 239 f. Taf. 114 Nr.15;
G. Richter, The Portraits of the Greeks II (1965) 189f. Abb. 1106-1110;
J. Pollitt, Art in the Hellenistic Age (1986) 67 Abb. 63.