Die Statue wurde im Jahre 1701 in der sog. Villa des Antoninus Pius zwischen der Via Flaminia und Lanuvium gefunden und befindet sich seit 1816 im Kapitolinischen Museum in Rom.
Die Statue ist lebensgroß (1,71 m), ergänzt sind folgende Teile: Nase, rechte Hand mit Buchrolle und rechter Arm bis zur Bizepsmitte, kleiner Finger der linken Hand, beide Füße, Statuenbasis und kleinere Partien der Mantelfalten. Am Ansatz des rechten Oberschenkels finden sich Reste einer ehemals vorhandenen Statuenstütze.
Der Kopf der Statue beeindruckt durch seine expressiven Züge: Wirres, ungeordnetes Haar und ein buschiger Vollbart rahmen ein stark bewegtes Gesicht, dessen Ausdruck maßgeblich durch ein extremes Zusammenkneifen der Augen bestimmt wird. Diese ganz momenthafte Muskelkontraktion, die hier gezeigt wird, verursacht auch die auffallende Faltenbildung in der Augen- und Nasenpartie und im Stirnbereich. Bei der Gesichtsgestaltung ist auf jegliche Symmetrie verzichtet: Weder Augenbrauen noch Falten laufen parallel, auch die von hinten kommenden Haarlocken fallen ungleichmäßig lang und asymmetrisch in die Stirn.
Auf der rechten Kopfseite wird zwischen zwei Locken die Stirnglatze sichtbar, ein Motiv, das von der üblichen Darstellungsweise griechischer Porträts abweicht, die die Glatze kunstvoll zu verbergen sucht (als Beispiele sei auf die Köpfe des Aristoteles Abguß Inv. 113 und des Euripides Rieti Abguß Inv. 73 verwiesen).
Der ausgeprägte Vollbart charakterisiert den Dargestellten als Philosophen, denn seit Alexander dem Großen war Bartlosigkeit die Regel, nur Intellektuelle trugen weiterhin Bärte.
Das ungepflegt wirkende Haupt- und Barthaar gibt einen ersten Hinweis darauf, daß der dargestellte Denker zur Philosophenschule der Kyniker gehören könnte. Doch erst der Gesamteindruck der Statue ermöglicht eine sichere Zuordnung.
Der Körper ist untersetzt und kräftig, seine Muskulatur hat aber nichts mit der idealen Muskulatur des in der Palästra, der antiken Sportstätte, geübten Mannes zu tun, sondern weist deutlich Spuren von Alter und körperlicher Vernachlässigung auf. Es ist eine „unathletische“, eine naturgegebene Muskulatur.
Der bewußte Gegensatz zum klassischen Ideal wird vor allem in der Haltung des Körpers deutlich: Der Rücken ist gebeugt, wodurch die ohnehin schlaffe Brust noch zusätzlich gestaucht wird; der Kopf setzt die Krümmung des Rückens fort, so daß der kurze Hals in der Vorderansicht vollkommen verschwindet. Der einfach und schwer wirkende Mantel - offensichtlich aus grobem Material - gleitet unvorschriftsmäßig über die linke Schulter herunter, ein Motiv der Nachlässigkeit, das in deutlichem Gegensatz zur korrekten Trageweise des Gewandes steht, wie sie sonstige Ehrenstatuen zeigen (etwa die Statue des Sophokles Abguß Inv. 47 oder des Demosthenes Abguß Inv. 24.31.32).
Die Betonung des Nicht-Konformen, des Gegensatzes zum klassischen Ideal und der Aspekt der „Vernachlässigung“ sind es, die eine Einordnung des dargestellten Philosophen als Kyniker ermöglichen, ihn also als Mitglied jener Philosophengruppe erkennbar machen, die sich durch ihre Forderungen nach Selbstgenügsamkeit, Verzicht auf materielle Güter und Rückkehr zur Natur in weitgehenden Gegensatz zu Staat, Gesellschaft und herrschender Moral begaben. Diese Haltung manifestierte sich auch im äußeren Erscheinungsbild der Kyniker: Sie trugen einfache Kleidung, lange Haare, lange Bärte und gingen barfuß. Sie wirkten verwahrlost und führten das Leben von Bettlern.
So wie der Kyniker mit seiner Lehre und seiner Lebensweise außerhalb der Gesellschaft stand und ihre Wertewelt ablehnte, so steht auch seine bildliche Darstellung in bewußtem Gegensatz zu den vorherrschenden Bildnisidealen. Eine derart abweichende und provozierende Ehrenstatue ist erst in der hellenistischen Zeit denkbar, die sowohl gesellschaftlich wie künstlerisch eine erstaunliche Bandbreite an Entwicklungsmöglichkeiten zuließ.
Durch den Vergleich mit der Sitzstatue des Stoikers Chrysipp (Abguß Inv. 38), die ebenfalls einen ungewöhnlichen Denker in stark momentaner Bewegung vorführt, ist eine Entstehungszeit des Kapitolinischen Kynikers in der zweiten Hälfte des 3. Jh.v.Chr. wahrscheinlich. Eine namentliche Benennung des Dargestellten ist nicht möglich; denkbar ist auch, daß es sich nicht um die Ehrenstatue eines zeitgenössischen Kynikers handelt, sondern um ein „Erinnerungsbildnis“ für einen berühmten Kyniker des 4. Jh.v.Chr., vergleichbar der späthellenistischen Statuette des berühmten Diogenes (Abguß Inv. DL 90).
Wegen des Fehlens von weiteren Repliken ist die Statue oft für ein griechisches Original gehalten worden, doch spricht ihre gesamte Machart dafür, daß es sich um eine frühkaiserzeitliche Marmorkopie eines griechischen Bronzeoriginals handelt.
K. Schefold, Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker (1943) 122 f.;
G.M.A. Richter, The Portraits of the Greeks II (1956) 185;
Helbig4 II Nr.1431 (H.v.Heintze);
E. Buschor, Das hellenistische Bildnis 2 (1970) Nr.98;
I. Scheibler, Sokrates in der griechischen Bildniskunst (Ausst.Kat. München 1989) Nr. 11.3.
Antike Nachrichten über die Kyniker: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch VI
(= Das Lob der Bedürfnislosigkeit oder Leben und Meinungen der Kyniker, dt. von C. Holfelder).