Am Original dieser Statue sind folgende Teile ergänzt: die gesamte Partie ab unterhalb der Knie, der obere Rand des Gefäßes, Teile des Gewandes am Hals sowie weitere kleine Stellen. Der Kopf aus andersartigem Marmor wurde gesondert gearbeitet. In der Figur befindet sich eine Bleiröhre, die in das Gefäß mündet. Sie stammt wohl von einer Zweitverwendung der Statue als Brunnenfigur.
Der Befund zeigt also den Torso einer Gestalt, die in den von ihrem Mantel verhüllten Händen ein zunächst nicht näher bestimmbares Gefäß trägt. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, daß die Figur recht unweiblich breite Schultern hat und sich keine Brüste unter dem Gewand abzeichnen. Es stellt sich somit die Frage, ob der eindeutig weibliche Kopf tatsächlich zugehörig sein kann. Bislang hat sich die Forschung dazu unentschieden geäußert, eine Zeichnung unserer Statue von de Cavallieri (16. Jh.) zeigt allerdings noch einen anderen Kopf.
Weiterhin fällt auf, daß die Beinhaltung falsch ergänzt wurde, denn das darge-stellte Standbein-Spielbein-Schema würde eine ausschwingende Hüfte auf der rechten Seite der Figur fordern, von der jedoch nichts zu sehen ist. Der Restau-rator des 16. Jh. muß sich also in mehreren Punkten geirrt haben: Der Kopf ist nicht zugehörig, nach der Ausbildung der Hüftpartie stand die Figur wohl gleichmäßig auf beiden Beinen, die seitliche Drehung im unteren Teil der Beine ist falsch ergänzt. Nach dem Habitus läßt sich vielmehr eine männliche, gemäß der Körperhaltung schreitende Figur rekonstruieren.
Der Kopf der Statue muß also gesondert betrachtet werden. Stilistische Ver-gleichsmöglichkeiten bieten die Porträts ptolemäischer Königinnen mit ihren dicken Gesichtern; die Frisur mit den breiten, durch tiefe Furchen getrennten seitlichen Strähnen finden sich an ostgriechischen Grabreliefs des 2. Jh.v.Chr. wieder. An der Ausführung des Kopfes erinnern das schwere Untergesicht an Porträts der Matidia (Schwiegermutter Hadrians), die Formulierung der Augen an Porträts von Hadrians Gattin Sabina. Es handelt sich also wohl um eine hadrianische Kopie nach einem späthellenistischen Werk. Möglicherweise gehörte der Kopf zu einer Göttin oder Personifikation.
Zurück zur Statue: Ikonographische Parallelen für den vorgestellten Befund - männliche, schreitende Gestalt mit einem Gefäß in den verhüllten Händen - finden sich auf einem Relief in den Vatikanischen Museen (Abb. 2), auf Säulenreliefs aus Rom, in zwei Statuen aus Benevent und auf einem Wandgemälde aus Herculaneum. Diese Monumente zeigen glatzköpfige, schreitende Männer - zumeist haben sie einen Teils des Mantels über den Kopf gezogen -, die in ihren verhüllten Händen ein von einem Tierkopf bekröntes Gefäß halten: es sind Isispriester, die den sogenannten Canopus mit heiligem Nilwasser in der Prozession tragen.
Ähnlich muß man sich unsere Statue vorstellen: Der Priester schreitet in der Prozession. Ob auch bei ihm der Hinterkopf mit einem Teil des Gewandes bedeckt war, läßt sich nicht sicher entscheiden, angesichts der Ergänzungen am „Kragen“ des Mantels ist dies aber gut möglich. In seinen feierlich erhobenen Händen bietet er den Canopus dar, der ursprünglich mit dem als Tierkopf gebildeten Deckel bis etwa auf Höhe seines Gesichts gereicht hat. Der Vergleich mit dem Prozessionsrelief im Vatikan (Abb. 2) veranschaulicht das Verhältnis von Gefäß und Figur. Canopen waren im altägyptischen Kult Eingeweidegefäße. Die Organe der Toten wurden vor dem einbalsamieren entnommen und gesondert in je vier Krügen bestattet, deren Deckel die Köpfe von Mensch, Schakal, Affe und Falke trugen. Diese galten als die vier Söhne des Horus. Der Name des Gefäßes wird von der ägyptischen Stadt Kanopos hergeleitet. Im dortigen Heiligtum wurde nach einer antiken Quelle Osiris unter demselben Namen verehrt, die Gestalt seines Kultbildes ahmten die Eingeweidegefäße nach.
Osiris galt als Bringer des Nils und wurde als Nil selbst auch noch in griechisch-römischer Zeit verehrt. Wie Isis die Erde ist, so stand Osiris für das Wasser, das diese Erde fruchtbar macht. In der gleichen Bedeutung ging das Nilwasser in die Liturgie des Kultes über, Canopen wurden nicht mehr als Eingeweidebehältnisse, sondern als Aufbewahrungsgefäße für das Wasser benutzt. Besonders außerhalb Ägyptens war die Überbringung des heiligen Nilwassers (= Osiris = Fruchtbarkeit) eine äußerst wichtige rituelle Handlung.
Aufschlußreich erscheint weiterhin der Fundort unserer Statue: Sie wurde in der Villa Hadriana in der Nähe einer Isisbüste entdeckt. In diesem Sommersitz des Kaisers Hadrian befand sich neben anderen Prachtbauten ein Heiligtum des Osiris, das dem schon genannten Kanopos-Heiligtum von Abukir genau nachempfunden war.
Abb. 2
Hadrian stand allen östlichen Einflüssen aufgeschlossen gegenüber, besonders muß er aber den ägyptischen Göttern verbunden gewesen sein, da sein Liebling Antinous in deren heiligen Fluß Nil ertrunken war. Es ist also gut vorstellbar, daß er für einen bestimmten Isispriester in seiner Villa eine Statue aufstellen ließ, die in erheblich veränderter Form auf uns gekommen ist. Die besondere Isis-Verehrung des Kaisers und die Tatsache, daß die Priesterfigur in seinem privaten Bereich stand, würde auch am ehesten das sonst nicht nachweisbare überlebensgroße Format für eine solche Priesterstatue erkären.
C. Hülsen, Römische Antikengärten des 16. Jhs., Abh. Heidelberg 1917, 108 Nr. 110;
Helbig4 II Nr. 1227;
J. Raeder, Die statuarische Ausstattung der Villa Hadriana bei Tivoli (1983) 66 f.;
H. Stuart-Jones, A Catalogue of the Ancient Sculptures (1912) 360 Taf. 92 (Säulenreliefs);
Helbig4 I Nr. 491 (Prozessionsrelief);
H. W. Müller, Der Isiskult im antiken Benevent (1969) 95 ff. Nr. 284, 106 Nr. 288 m. Abb. (Priesterstatuen); ebd. Taf. 10 (Wandgemälde aus Herculaneum).
Zum Kopf: H. Kyrieleis, Bildnisse der Ptolemäer, Arch.Forsch 2, 1975, J4 Taf. 73 (Arsinoe II);
E. Pfuhl - H. Möbius, Die ostgriechischen Grabreliefs (1977) I Nr. 435, 567;
K. Fittschen-P. Zanker, Katalog der röm. Porträts in den Capitolinischen Museen III (1983) Nr. 8 Taf. 10 (Matidia), Nr. 9 Taf. 10 (Sabina).