Die römische Kopie der Anakreon-Statue wurde zusammen mit anderen Dichter- und Musenstatuen auf dem Gelände einer römischen Villa in den Sabinerbergen bei Rom gefunden. Die Identifizierung mit dem Lyriker Anakreon ermöglichte der Fund einer Inschriftenherme in Rom, Mus. Nuovo Capit.
Inv. 838.
Anakreon wurde um 572 v.Chr. in der ionischen Küstenstadt Teos geboren. Nachdem die ionischen Städte unter persische Herrschaft gekommen waren, wanderte er zusammen mit anderen Einwohnern von Teos nach Thrakien aus, wo sie die Kolonie Abdera gründeten (Strabo 644). Kolonist blieb Anakreon jedoch nicht lange, denn bald darauf finden wir ihn am Hofe des Tyrannen Polykrates von Samos (537-522) (Herodot III 121; Strabo 638). Nach der Ermordung des Polykrates wurde der hochgeschätzte Dichter und Sänger Anakreon nach Athen an den Hof des Tyrannen Hipparchos berufen. Dort verkehrte er mit zahlreichen Adligen seiner Zeit, so z.B. mit dem reichen Kritias und Xanthippos, dem Vater des Perikles. Er muß während seines Aufenthalts in Athen eine stadtbekannte Erscheinung gewesen sein, denn wir finden ihn mehrfach auf Vasenbildern dargestellt und inschriftlich benannt. Nach der Ermordung des Hipparchos (514) blieb Anakreon nicht länger in Athen und begab sich vermutlich an den Hof der Aleuaden in Larissa in Thessalien. Möglicherweise kehrte er in hohem Alter in seine Heimatstadt Teos zurück, wo er vermutlich 488 v.Chr. starb.
Literarisch sind uns mehrere Bildnisse des Anakreon überliefert. Mit größter Wahrscheinlichkeit können wir die Kopenhagener Statue mit einer Stelle aus Pausanias' Akropolisbeschreibung (I 25,1) in Verbindung bringen: „Auf der Akropolis von Athen steht auch Perikles, der Sohn des Xanthippos, und Xanthippos selbst, der die Seeschlacht bei Mykale gegen die Perser schlug. Die Statue des Perikles steht aber anderswo, in der Nähe des Xanthippos jedoch steht Anakreon von Teos, der zuerst nach der Lesbierin Sappho Liebesgedichte schrieb. Und er ist so dargestellt wie wohl ein trunkener Mensch singen würde.“
Diese Erzstatue auf der Akropolis war sicherlich die berühmteste Statue des Anakreon und wurde deshalb in der hadrianisch-antoninischen Epoche - einer Zeit großer Griechenbegeisterung - mehrfach kopiert. Neben der Statuenkopie des 2. Jh.n.Chr. in Kopenhagen besitzen wir sieben Kopfrepliken. Für die Beurteilung des Originals müssen wir von der Kopenhagener Statue und der Kopfreplik in Berlin ausgehen. Das griechische Original der Statue, auf das alle römischen Kopien zurückgehen, entstand um 440 v.Chr. und bedurfte als Bronzestatue keiner Stütze in Form eines Baumstammes. Von der Forschung wurde die bekannte Statue unterschiedlichen berühmten Meistern der Hochklassik, allen voran dem Phidias zugeschrieben. Als Stifter der Statuen des Anakreon und des Xanthippos wurde Perikles vorgeschlagen, eine Annahme, die sich jedoch nicht beweisen läßt.
Die Errichtung einer Bildnisstatue auf der Akropolis stellt eine ungewöhnliche Ehrung für einen Dichter dar, und die Aufstellung 40 - 50 Jahre nach seinem Tod zeugt von Anakreons Berühmtheit. Durch die Nachbarschaft zur Statue des Xanthippos wurde gleichzeitig auf seine Freundschaft mit den Aristokraten seiner Zeit hingewiesen, deren Lebensweise er in seinen Gesängen verherrlicht hatte. Im demokratischen Athen um 440 war damit möglicherweise eine politische Aussage der oligarchischen Seite verbunden, was der Annahme von Perikles als Statuenstifter entgegensteht.
Das übliche Schema für eine männliche Ehrenstatue in klassischer Zeit war jedoch die nackte Darstellung in meist kontrapostischer Haltung unter Verzicht auf individuelle Kennzeichnung. Lediglich Attribute machten das Amt oder die Tätigkeit des Dargestellten kenntlich. So müssen wir uns z.B. die Statuen des Perikles oder seines Vaters Xanthippos nackt und nur mit einem Helm, Schild und Speer zur Kennzeichnung ihres Strategenamtes ausgestattet vorstellen.
Vor dem Hintergrund dieser stark normierten Ehrenstatuen überraschen die zahlreichen Hinweise auf die Persönlichkeit des Dichters an der Statue des Anakreon. Sein Beruf - Dichter und Sänger - wird durch die Binde, die er im gepflegten Haar trägt, angegeben und sein Lieblingsinstrument, das Barbiton, hielt er in der Linken zum Zeichen, daß er sich selbst zum Gesang begleiten kann.
Beide Füße hat der schon etwas ältere Mann auf den Boden aufgesetzt und scheint seinen Stand gleichsam mit dem nach hinten geneigten Oberkörper ausbalancieren zu müssen. Der unsichere Stand Anakreons wurde zumindest von Pausanias als Hinweis auf Trunkenheit verstanden. Ob der Grieche des 5. Jh. diese Haltung als Angetrunkensein verstand oder ob diese Haltung als eine Art Tanzschritt zu interpretieren ist, wie es der Vergleich mit Vasenbildern nahelegt, ist nicht sicher zu entscheiden. Die Vorstellung von der für den Dichter inspirierenden Kraft des Weines war jedoch im 5. Jh. durchaus geläufig. Inspiration soll wohl auch sein zurückgeworfener Kopf zum Ausdruck bringen.
In den Bereich des Symposion bzw. des damit verbundenen Umzugs (Komos) gehört auch Anakreons kurzes Mäntelchen, das ihn ebenfalls deutlich von nackten Ehrenstatuen bzw. der Darstellung älterer Bürger im langen Mantel auf Grabreliefs unterscheidet. Das kurze, nur über die Schulter gelegte Mäntelchen ist, wie wir von zahlreichen Vasendarstellungen wissen, das typische Komosgewand. In den Bereich des Gelages weist auch Anakreons hochgebundenes Glied (Kynodesme). Wir kennen die Kynodesme auch aus dem Sportlerbereich, dort wurde sie angewandt, um die Eichel vor Schmutz bzw. Verletzung zu schützen. Beim Symposion sollte sie vermutlich verhindern, daß die Eichel sichtbar wurde, was als unästhetisch und schamlos galt.
Sämtliche von der üblichen Ehrenstatue abweichenden Merkmale des Anakreonbildnisses sind also letztlich auf das Symposion, das Hauptthema seiner Dichtungen zurückzuführen. Diese Dichtkunst war zum Zeitpunkt der Errichtung der Statue offenbar so berühmt, daß sie ausschlaggebend für das Aussehen des lyrischen Dichters wurde.
U. v. Wilamowitz-Möllendorff, Sappho und Simonides (1913) 102ff.;
V. Poulsen, Les Portraits Grecs (1954) 25ff. Nr.1, Abb.1-3;
G.M.A. Richter, The Portraits of the Greeks I (1965) 75ff., Abb. 271-298;
Helbig4 II (1966) 1770 (v. Heintze) m. weiterer Literatur;
E. Voutiras, Studien zur Interpretation und Stil griechischer Portraits des 5. und 4. Jh. v. Chr. (1980) 77ff.