Das Bildnis des Philosophen (Abguß Th 38) ist allein in der Sitzstatue im Louvre (ehemals Slg. Borghese) und einer Statuette im Konservatorenpalast (Abguß Th 28), sein Kopf dagegen in 16 Repliken überliefert, von denen diejenigen in Neapel (Abguß Th 126) und London (Abguß B 14) am ehesten eine Vorstellung vom Original vermitteln. Auf die Statuette wird im Verlauf des Textes nicht näher eingegangen, da sie über die allgemeine Bestätigung von Sitzmotiv und Manteldrapierung hinaus keine zusätzlichen Details des Philosophenbildnisses überliefert.
Die Identifikation des Bildnisses gelang über eine von v. Prott publizierte Büste mit folgender Inschrift (T)ON ΧΡΥΣΙΠΠΟΝ ΑΚΡΙΣΙΟΣ (ΜΙΘΡΗ) („Den Chrysipp hat Akrisios dem Mithras aufgestellt“) sowie die aufgrund der Trageweise des Mantels erwiesene Zusammengehörigkeit mit der Statue im Louvre. Vorher hatten bereits Fea, Gercke und Milchhöfer eine Benennung als Chrysipp vorgeschlagen. Letzterer erkannte ebenso, daß der Kopf des Philosophen, wie es u.a. die genannten Repliken in Neapel und London deutlich zeigen, zur Seite und vor allem nach oben gerichtet war. Ungeachtet dessen interpretierte die später vorgenommene Ergänzung der Pariser Statue mit dem Londoner Porträt (s. den Münchner Abguß) das Bildnis als den ins Nachdenken versunkenen Philosophen.
Doch ganz im Gegensatz dazu, ergriffen von der Leidenschaft des Argumentierens, muß dieser seinen Betrachter bedrängt haben. Von der niedrig-unbequemen Steinbank aufschauend, sucht er ihn mit den leicht zusammengekniffenen Augen schärfer in den Blick zu nehmen. (Als Ehrenstatue wird das Bildnis kaum allzu niedrig aufgestellt worden sein. Wieweit der Philosoph aber auf hohem Pfeiler thronte, ähnlich dem des Menander im Dionysos-Theater, scheint mir nicht zwingend, ohne nicht eine die Bildniswirkung beeinträchtigende Distanzierung vom Betrachter in Kauf zu nehmen.) Vom Alter gezeichnet, mit nahezu kahlem Schädel und schlaffer Haut auf der Brust, vermag er nicht mehr gerade zu sitzen, begnügt sich dennoch mit dem einfachen „Möbel“ ohne Kissen und hüllt sich in den schweren, wohl grob gewebten Mantel. In momentaner Gebärde befreit sich sein rechter Arm, gewichtet das Gesagte, während die linke Hand umso energischer in den Stoff greift und das Himation um den Körper und den herabhängenden Mantelzipfel auf die Oberschenkel zieht. Zugfalten und der umgeschlagene Saum neben dem linken Bein verdeutlichen die heftige Regung, die ihn bis in die Fußspitzen hinein erfaßt und mit dem linken Fuß nervös wippen läßt.
Sein Gesicht, in dem die Alterszüge, über die Glatze und die eingefallenen Wangen mit faltiger Haut hinaus, kaum von denen heftiger Denkanstrengung unterschieden werden können, zeigt dieselbe, momentane Erregung. Tiefe Falten furchen die Stirn, während er gleichzeitig seine rechte Braue nach oben zieht, die linke dagegen zur Nasenwurzel hin kontrahiert. Die leicht zusammengekniffenen, das Gegenüber suchenden Augen werden dadurch stark verschattet. (Vgl. die differenzierteste Replik in Neapel, in deren akribischem Interesse an der Wiedergabe physiognomischer Details sich die frühkaiserzeitliche Entstehung ausdrückt.) Im angespannten Untergesicht, zwischen den markanten Nasenfalten öffnet sich der kleine, mit herabgezogenen Mundwinkeln zum Sprechen geformte Mund.
Die Spannung, die sich durch den Kontrast von rücksichtslos vorgeführtem Alter einerseits und der den gesamten Körper erfassenden Nervosität andererseits unmittelbar auf den Betrachter überträgt, erlaubt des weiteren eine genauere Bewertung einzelner Details der Physiognomie. Der ungleich dicht wachsende Bart und einzelne auf der rechten Wange sprießende Haarbüschel (die vereinfachende Londoner Replik verändert dieses Motiv zu einer Falte) erinnern unmittelbar an die Gestalten alter Fischer und zeigen das gänzlich fehlende Interesse des Philosophen an seiner äußeren Erscheinung. Die Grenzen gesellschaftlicher Verhaltensnormen mißachtend, provoziert er den Betrachter und zwingt ihn zu eigener Stellungnahme.
Zumindest ikonographisch kann der Vergleich mit den Bildnissen der Epikureer verdeutlichen, daß in dem einfachen Sitzmöbel, den Schuhen sowie dem viel weniger stoffreichen und gröber gewirkten Mantel, dessen Drapierung betont kalligraphische Faltenmotive vermeidet, die Anspruchslosigkeit des Stoikers gerühmt wurde. (Der bei der Pariser Statue nur einseitig wiedergegebene Klappstuhl mit flachem Kissen scheint eher mißverstandene Zutat des Kopisten zu sein, der die betonte Einfachheit des Blocks nicht begriff und den Stuhl, der römischen Aufstellung entsprechend, einseitig ergänzte.)
Sowohl bei Cicero (De fin. I,39) als auch bei Pausanias (I,17,2) werden jeweils ein Bildnis des Philosophen genannt, ersteres im Kerameikos von Athen, während jenes andere im Gymnasium des Ptolemaios, unweit der Agora, gestanden haben soll. Ob es sich um eine einzige, später an anderen Ort versetzte Statue handelt, läßt sich genauso wenig beantworten, wie die Frage nach ihrer Funktion als Grab- oder Ehrenstatue. Allerdings hat die Kenntnis des ungefähren Todesdatums des Philosophen in der Olympiade von 208 - 204 v.Chr. dazu geführt, die Aufstellung der Statue am Ende des 3. Jhs. anzunehmen, wenn auch eine beispielsweise erst eine Generation später erfolgte Errichtung kaum ausgeschlossen werden kann.
Ein stilistischer Vergleich mit der fest datierten Statue des Demosthenes (281 v.Chr.) läßt denn auch Unterschiede erkennen. Die kompositionelle Strenge der Sitzfigur, die es dem Betrachter verwehrt, sie in ihrer körperlichen Präsenz aus einer Position gänzlich zu erschließen, und das auffallende Bemühen des Bildhauers um eine weitestgehend genaue Wiedergabe des körperlichen Erscheinungsbildes lassen eine um einiges spätere Entstehung annehmen. Eine genauere Bewertung der zeitlichen Bestimmung wie der ikonographischen Abhängigkeit der beiden für Athen überlieferten Bildnisse scheint mir nicht möglich. Die große Nachwirkung des Philosophen, dem man heute die systematische Ordnung der stoischen Lehre zuschreibt, erwähnt noch Iuvenal (Sat. II,4-5) im frühen 2. Jh.n.Chr., wenn er dessen zahlreiche Bildnisse in den Häusern selbst der Ungebildeten hervorhebt.
A. Milchhöfer in: Archäologische Studien H. Brunn dargebracht (1893) 35-50, Abb.1;
H. v. Prott, AM 27, 1902, 297-300;
G. Lippold, Griechische Porträtstatuen (1912) 75f.;
G. Richter, AJA 29, 1925, 155ff.;
R. Horn, Stehende weibliche Gewandstatuen in der hellenistischen Plastik, 2.Ergh. RM (1931) 32;
M. Bieber, Sculpture of the hellenistic age (21961) 68ff., Abb. 234-42;
G.Richter, The Portraits of the Greek II (1965) 190-94, Abb. 1111-1148;
L. Giuliani, Bildnis und Botschaft (1986) 158f.