Die in Rom gefundene Statue der sitzenden jungen Frau wird allgemein als „Schutzflehende Barberini“ bezeichnet. Seit dem 17. Jh. stand sie im römischen Palazzo Barberini an der Via Quattro Fontane, bis sie am 10. Mai 1935 offiziell für den Louvre erworben wurde.
Das Standbild ist die Kopie eines berühmten griechischen Marmorwerks, das in der römischen Kaiserzeit mehrfach nachgebildet wurde. Weitere Wiederholungen befinden sich im Vatikan und in der Ermitage. Die Statue im Louvre ist allerdings so qualitätvoll, daß sie in der älteren Forschung einmütig als griechisches Original galt. Sie ist außerdem sehr gut erhalten, lediglich die rechte Hand und der linke Fuß fehlen.
Die junge Frau sitzt längs auf einer niedrigen, profilierten Basis, auf der sie sich mit dem durchgedrückten linken Arm abstützt. Der rechte Arm ist angewinkelt und nach vorne geführt. Die Oberschenkel ruhen nicht fest auf der Sitzfläche, was z.B. am Motiv der leicht gespreizten Beine deutlich wird.
Die Sitzhaltung der Statue ist also keineswegs stabil. Dieses Bewegungsmotiv könnte man als ein jähes Zurückweichen erklären, wobei der Körper mit einem Arm abgefangen wird und die Beine durch den Schwung emporgehoben werden. Ebenso wäre vorstellbar, daß die Frau unbequem auf einer Treppenstufe sitzt, so daß die Beine aufgrund der geringen Stufenhöhe nicht auf der Sitzfläche aufliegen.
Interessant ist auch die Gewanddrapierung. Der Chiton ist über die linke Schulter herabgeglitten und gibt den Blick auf die Brust frei. Auch der Mantel ist von den Schultern gefallen und bildet am Gesäß der Sitzenden einen Faltenstau. Am rechten Fuß der Frau ist die Sohle einer Sandale erkennbar, während der linke nackt ist. Dieses Motiv konnte bislang nicht befriedigend erklärt werden.
Die ungewöhnliche Haltung der Sitzstatue hat zu den verschiedensten Spekulationen über die Identität der Dargestellten geführt:
Aufgrund der eigentümlichen Basisform hat man zunächst angenommen, es handle sich um einen Altar, auf dem die Schutzflehende im Augenblick höchster Bedrängnis Zuflucht sucht; dort war sie für einen Sterblichen unantastbar. Dafür könnten auch die bewegte Sitzhaltung und das Derangement der Kleidung sprechen. Zur Benennung wurden daher mythologische Persönlichkeiten wie Alkmene, Kassandra oder auch Iphigenie vorgeschlagen.
Ein anderer Deutungsversuch sieht in der Basis ein Möbelstück. Aufgrund von Vergleichen mit entsprechenden Vasenbildern wollte man in jenem Bildnis Danae erkennen, die auf einer Truhe sitzend ihren Liebhaber Zeus in Gestalt eines Goldregens erwarte. So konnte man sich das erotische Motiv der entblößten Brust erklären. Den Untersatz der Statue brachte man mit dem weiteren Schicksal der Danae in Verbindung. Sie wurde nämlich mit ihrem kleinen Sohn Perseus, der jener Verbindung mit Zeus entsprang, von ihrem Vater Akrisios in einer Truhe auf dem Meer ausgesetzt.
Eine ganz neue Perspektive für die Beurteilung dieses Statuentypus ergab sich, als G. Despinis auf der Athener Akropolis zwei Bruchstücke des im übrigen verlorenen Originalwerkes fand (s. Abbildung).
Es gelang ihm, die Fragmente als zusammengehörig zu erkennen und als Bestandteile der Statue zu identifizieren, die das direkte Vorbild der „Schutzflehenden Barberini“ war. Der Vergleich dieser Fragmente mit den entsprechenden Gewandpartien der römischen Kopien zeigt, daß das Exemplar im Louvre eine besonders qualitätvolle, originalgetreue Wiederholung aus der frühen Kaiserzeit ist - ein seltener Zufall in der archäologischen Überlieferung.
G. Despinis versuchte auch einen neuen Deutungsvorschlag zu begründen. Er bringt die Statue mit einem Werk des Deinomenes in Verbindung, welches nach Auskunft des Pausanias (1.25.1) im Heiligtum des Zeus Polieus auf der Akropolis zu sehen war. Dabei handelte es sich um Standbilder der Heroinen Io und Kallisto. Beide waren Geliebte des Zeus: Kallisto, die als Jagdgefährtin der Artemis Jungfräulichkeit gelobt hatte, wird nach dem Beilager mit Zeus zur Strafe in eine Bärin verwandelt. Io, die vom Göttervater geliebte Priesterin der Hera, erhält von Zeus die Gestalt eines Rindes, damit sie dem Zorn seiner Gattin Hera entkomme. Hera läßt sie vom hundertäugigen Argos bewachen, der jedoch von Hermes getötet wird. Daraufhin versetzt die Göttin das Rind mittels einer Bremse in Raserei und hetzt es über Land und Meer hinweg.
In der Kunst erscheint Kallisto als Jägerin mit geschürztem Chiton und Köcher sowie Bärentatze, Io wird häufig mit Rinderhörnern dargestellt, die aus der Stirn wachsen. Die uns vorliegende Statue soll Io vor ihrer Verwandlung zeigen, da bei diesem Bildnis die sonst obligatorischen Rinderhörner fehlen. Die Interpretation als Kallisto kommt nicht in Frage, da die Frau nicht als Jägerin gekennzeichnet ist, wie man es bei der Darstellung dieser Heroine erwarten würde.
Diese jüngst vorgeschlagene neue Benennung der Sitzfigur würde bedeuten, daß es sich um eine architektonisch eingebundene Statue handelte. Die Basis, auf der die Frau sitzt, wird nicht als kleiner Altar oder Truhe angesehen, sondern als oberste Stufe einer Treppe. Man hätte sich für Kallisto eine zweite Skulptur der gleichen Art vorzustellen, die als Pendant die andere Seite der Treppe zierte. Es wäre denkbar, daß beide Statuen ursprünglich am Aufgang zum Altar des Zeus Polieus standen.
Da aber keine der vorgestellten Benennungen durch Vergleiche in der bildenden Kunst einwandfrei bewiesen werden kann und es unmöglich ist, die Basis sicher als Altar, Truhe oder Treppe zu identifizieren, muß die wahre Identität der dargestellten Person leider ungewiß bleiben.
Weniger problematisch als die Benennung ist die Datierung des Werkes. Der Vergleich mit den Skulpturen des Parthenon läßt eine zeitliche Einordnung in das 3. Viertel des 5. Jh.v.Chr. zu. Obgleich die „Schutzflehende“ den Parthenonskulpturen stilistisch sehr nahe steht, spricht die Gestaltung des Gewandes dennoch für eine Entstehung kurz vorher. Das Gewand läßt den Körper nicht so stark durchscheinen, vielmehr führt der Stoff ein Eigenleben, wodurch die Körperformen verunklärt werden. Die Parthenonskulpturen hingegen präsentieren den Körper klar und deutlich wie durch nassen Stoff. Zum stilistischen Vergleich kann ferner der Torso einer Dionysosstatue in Berlin herangezogen werden (Inv. 384).
G. Despinis, Gijesida Barberini in: Akten 12. Intern. Kongreß f. Klass. Archäologie in Athen 4.-10. 9.1983, Bd. 3 (1988) 65 ff.;
J. Dörig, JdI 80, 1965, 143-166;
S. Karusu, AntK 13, 1970, 34 ff.;
E. Michon, MonPiot 35, 1935-36, 93 ff.;
P. Mingazzini, AntK 11, 1968, 53 ff.;
E. Simon, AA 1985, 279 ff.