Erst hat ein Gott in den Sinn mir gehaucht an ein Tuch mich zu machen.
Darum stellte ich auf im Palast einen mächtigen Webstuhl.
Groß und umfassend sollte es werden. So wob ich und sagte:
Jünglinge, ihr meine Freier; tot ist der hehre Odysseus!
Wartet! Drängt nicht zur Ehe! Ich möchte ein Tuch erst vollenden –
Nutzlos, fürchte ich, müsste das Garn sonst verderben; – für unsren
Helden Laertes das Grabtuch, eh noch das grausige Schicksal
Endlich ihn packt, wenn der Tod an ihn kommt, der keinen noch schonte.
Soll mich doch keine Achaierin schelten im Volke und sagen:
Vieles hat er erworben, doch fehlt seiner Leiche das Laken.
(Homer, Odyssee IX, 138-147)
Wir wissen nicht, wie Penelopes Gewebe aussah. Die Darstellung Penelopes auf dem Skyphos Chiusi gehört zu den seltenen Bildern, auf denen sie mit dem Gewebe zu sehen ist. Hugo Blümner urteilte über dieses Bild: „Das fertige Gewand zeigt ornamentierte Ränder und unten einen Querstreifen mit Flügelfiguren verschiede-ner Art; für eingewebt wird man diese Figuren kaum halten dürfen, da dies an dem einfachen Webstuhl nicht ausführbar wäre. Sicher ist hier Stickerei mit Weberei in Verbindung gemeint.“ (Blümner 1912, 158). Heute wissen wir, dass Stickereien unter antiken Textilfunden äußerst selten sind und für die antike Textilproduktion kaum eine Rolle spielten. Die Vorstellung von der Primitivität des Webgeräts und der Arbeit, die man daran verrichten kann, hat sich aber kaum verändert.
Penelope wird in der Odyssee mehr als 50 mal mit dem Epitheton periphron belegt, das auf ihre Umsicht und Besonnenheit hinweist, die sie auch mit ihrer Weberei unter Beweis stellt. Webmuster sind das Resultat einer geordneten Verkreuzung einzelner Elemente, die auf dyadischen Strukturen beruht (Kette/Schuss, Fadenhe-bung/Fadensenkung) welche im Fall der antiken Gewebe meist durch ein Anfangs-band geordnet sind. Dieses Band wird als erstes gewebt und seine Schussfäden dienen als Kettfäden des späteren Gewebes am Webstuhl. Dabei werden diese Schussfäden bereits beim Weben des Bandes nach geraden und ungeraden Fäden sortiert und gruppiert. Die eine Gruppe hängt am aufgebauten Webstuhl vor, die andere hinter dem Trennstab, der sich unten am Webstuhl befindet. Mit Der Her-stellung des Bandes ist das Gewebe in seinen möglichen Maßen, seiner Struktur und Qualität sowie in seinen Musterungsmöglichkeiten bereits zum Teil festgelegt. Die Kenntnis der Zahleigenschaften gerade, ungerade, prim sowie deren Zusammen-spiel ist notwendig für diesen Vorgang, weil sich im Gegensatz zur Arbeit am mo-dernen Webstuhl für das Gewebe kein zusätzlicher Faden mehr einfügen und kein überflüssiger wegnehmen lässt.
Anlässlich der Ausstellung „Penelope rekonstruiert“ wurde im Oktober 2006 ein Webstuhl hergestellt, der es ermöglichen sollte, eine Vorstellung von Penelopes großem Webstuhl mit dem umfassenden (oder auch: umfassten) Gewebe zu ermög-lichen. Der für diesen Zweck von Andreas Willmy angefertigte Gewichtswebstuhls war nicht als Rekonstruktion gedacht, sondern sollte vor allem funktionstüchtig sein. Keine der Darstellungen von antiken Webstühlen auf Vasen ist realistisch genug, um als Nachbauanleitung genutzt werden zu können. Wir wissen nichts über das Material und die Art der Verbindung der Elemente. Der Münchener Webstuhl hat keine festen Verbindungen und sollte möglichst mit textilen Mitteln (also Schnüren und Seilen) leicht auf- und abzubauen sein. Er erhielt eine Stütze, weil er für die Präsentation frei im Ausstellungsraum stehen sollte. Zwar war diese Art der Aufstellung vermutlich nicht üblich, aber andererseits auch nicht ungewöhnlich (vgl. Hoffmann Fig. 126, 127 und 128 auf den Seiten 301-305).
Anlässlich des 2000jährigen Jubiläums der Varusschlacht zeigte das Tuchma-cher Museum in Bramsche eine Ausstellung zu Textilien bei Römern und Ger-manen (5. Juni bis 25. Oktober 2009). In diese Ausstellung wurde neben der Penelope aus München auch eine Forschungswerkstatt für die Weberei integ-riert. Hier begann die Arbeit an dem Gewebe, das heute auf dem Webstuhl zu sehen ist. Dessen Gestaltung orientierte sich so eng wie möglich am Bild auf dem Skyphos Chiusi. Zum 140jährigen Jubiläum des Museum für Abgüsse wurde dieses Gewebe auf dem Webstuhl gezeigt.
Der Webstuhl ist nicht nur im Hinblick auf den Auf- und Abbau sehr flexibel. Die mit seiner Hilfe produzierten Gewebe lassen sich in ihren Zwischenstadien leicht umorganisieren: Man kann die Kettrichtung ändern, die Litzen immer wieder neu knoten und mit Brettchenweberei kombinieren. Dies war vor allem für die Ausführung des Chiusi-Gewebes entscheidend (vgl. das Schema der Fäden, links). So sind beispielsweise die Schussfäden (blau) des kurzen, schma-len Anfangsbandes (1.) zugleich Kettfäden des Figurenbandes (2.), laufen aber am großen Gewebe (4.) wieder in Schussrichtung. Diese Art der Kombination von Bändern und Gewebearten erklärt die ansonsten schwer verständlichen Beschreibungen von Geweben, die uns aus der antike überliefert sind. Der Münchener Webstuhl belegt, dass solche Gewebe auf dem primitiven Gerät tatsächlich machbar sind.
Artemis, selige Jungfrau, Fürstin der Frauen, wir webten
diesen Kleidersaum (pézan) dir, alle gemeinsam, zu dritt.
Bitia stickte (káme) die Mädchen, die blühend im Reigen sich wiegen,
den Maiandros dazu mit dem verschlungenen Lauf.
Antianeira, die blonde, ersann das schmückende Muster,
das, an dem Flusslauf entlang, kunstreich nach links sich erstreckt.
Was man, von Spannen- und Handbreitenlänge, rechtshin am Wasser
anschauen kann, das entstammt Bittions fleißiger Hand.
(Leonidas von Tarent, Anth. Graec. 6.286).
Hugo Blümner, Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern (Hildesheim 1912);
Ellen Harlizius-Klück, Weberei als episteme und die Genese der deduktiven Mathematik. In vier Umschweifen entwickelt aus Platons Dialog Politikos (Berlin 2004);
Ellen Harlizius-Klück, Weben am Gewichtswebstuhl, Video DVD 2007 (45 Min.);
Marta Hoffmann, The Warp-Weighted Loom: Studies in the History and Technology of an Ancient Implement (Oslo 1974);
Ingeborg Kader (Hg.), Penelope rekonstruiert. Ge-schichte und Deutung einer Frauenfigur. Sonderausstellung des Museums für Abgüsse Klassischer Bildwerke München, 9. Oktober 2006 bis 15. Januar 2007 (München 2006).