Der Münchener Abguß wurde von einer Mädchenfigur aus pentelischem Marmor im Britischen Museum genommen, die zusammen mit fünf weiteren Statuen gleicher Art (heute im Akropolis-Museum in Athen) das Gebälk einer Halle an der Südseite des Erechtheion auf der Athener Akropolis trug. Die Figur in London ist wesentlich besser erhalten als ihre Schwestern in Athen, da sie bereits 1803 von Lord Elgin nach England gebracht wurde und somit vor den zerstörenden Umwelteinflüssen auf der Akropolis geschützt blieb. Die Halle, von der die Statuen stammen, wird aufgrund dieser Stützfiguren in der archäologischen Literatur als Korenhalle bezeichnet. Das griechische Wort κόρη (Mädchen) dient auch in einer erhaltenen Rechnungsurkunde des Erechtheion (IG I2, 372) zur Bezeichnung der sechs Gebälkträgerinnen.
Das Erechtheion ist eine außerordentlich komplizierte Tempelanlage. Der ausführende Architekt sah sich der Schwierigkeit gegenüber, auf unterschiedlich hohen Geländestufen eine Reihe verschiedener Kulte und Kultmale in einem Gebäudekomplex unterzubringen. Die größte Bedeutung kam ihm als Haupttempel der Athena Polias zu. So wurde in einem der Räume des Erechtheion auch das Xoanon der Göttin - ihr altes Kultbild - aufbewahrt, das ursprünglich im alten Athena-Tempel stand. Nach dem Grab des Erechtheus, eines der mythischen Könige Athens, trägt der Bau seinen Namen. Ein weiteres Grab in diesem Bereich war jenes des Kekrops, des ersten der attischen Könige. Wichtige Kultmale waren ferner der Ölbaum der Athena sowie die Spuren vom Dreizack des Poseidon, die mit dem Wettstreit dieser beiden Gottheiten um das attische Land in Verbindung stehen.
Nach der Zerstörung des Alten Athena-Tempels 480/79 v. Chr. durch die Perser ergab sich die Notwendigkeit, Athena als Stadtgöttin einen neuen Haupttempel zu errichten, eine Funktion, die dem Parthenon nicht zugedacht war. Dennoch begann man mit den Bauarbeiten erst in den 20er Jahren des 5. Jh., zu einer Zeit, als der Parthenon und die Propyläen bereits vollendet waren. Der Ausbruch des Peloponnesischen Krieges 431 mag die Arbeiten zudem soweit verzögert haben, daß man sie erst nach einem vorläufigen Friedensschluß 421 aufnahm. Das gesamte Gebäude wurde 406 fertiggestellt; aus der o.g. Inschrift geht jedoch hervor, daß die Koren bereits im Jahre 409 am Bau versetzt waren. Ihre Entstehung wird in den Jahren um 415 anzusetzen sein.
H. Lauter konnte in seiner grundlegenden Studie nachweisen, daß allen sechs Koren ein gemeinsamer Entwurf zugrundeliegt, während die Ausführung der einzelnen Statuen verschiedenen Bildhauern oblag. Daraus folgt, daß die Figuren sich weitgehend entsprechen und Abweichungen nur in kleinerem Rahmen zu beobachten sind. Bei der Kore im Britischen Museum handelt es sich um eine sehr qualitätvolle Arbeit. Das Mädchen trägt einen gegürteten Peplos mit weit herausgezogenem Gewandbausch (Kolpos); darüber kommt der Gewandüberfall (Apoptygma) von den Schultern herab. Der Peplos ist seit der ersten Hälfte des 5. Jh. die übliche griechische Frauentracht. Auf den Rücken der Figur hängt ein doppelt genommener Mantel herab, der auf den Schultern befestigt ist. Trotz des schweren Stoffes des Peplos zeichnet sich der Körper an einigen Stellen deutlich darunter ab. Das linke Bein ist ein wenig zur Seite gesetzt und drückt sich unter dem Gewand durch, während das rechte Standbein unter dem Stoff verschwindet. Am Oberkörper sind die Brüste einschließlich der Brustwarzen deutlich zu erkennen. Die Arme hängen am Körper anliegend herab, sind aber oberhalb der Ellenbogen gebrochen. Die ursprüngliche Armhaltung wird nur an der linken Seite deutlich, wo die Führung des Mantels erkennen läßt, daß er von der Hand gerafft wurde. Dieses Motiv kennen wir von einer Vielzahl archaischer Koren, die einst auf der Akropolis standen.
Der Kopf ist frontal ausgerichtet und trägt eine überaus reiche und kunstvolle Frisur. Die Haare sind über der Stirn gescheitelt und in langen Locken nach hinten genommen. Dort werden sie zwischen zwei sich über dem Hinterkopf kreuzende Zöpfe geführt, um dann hinter dem Ohr auf die Schultern herabzufallen. Über dem Scheitel sind die Haare zu einem weiteren Zopf zusammengenommen, der vermutlich um die anderen geschlungen ist. Hinten kommt das Haupthaar unter jenen hervor und fällt in einem massigen Schopf auf den Rücken hinab, wobei es etwa in Schulterhöhe von einem Band zusammengehalten wird. Während die Frisur im Grunde gut ablesbar ist, bleibt die Bildung der beiden horizontalen Zöpfe unklar. Da sie übermäßig viel Haarmasse voraussetzen würden, vermutet Lauter wohl zu Recht, daß es sich um angestückte Haarteile handeln soll. Auf dem Kopf trägt die Kore das Kapitell, das zum Architrav der Halle überleitet. Direkt auf dem Haupt liegt ein Kissen oder Tragering auf, dem das eigentliche Kapitell folgt. Es setzt sich aus dem am oberen Rand profilierten Abakus und einem als Eierstab gebildeten Echinus zusammen, der nach unten von einem Perlstab begrenzt ist.
In der römischen Kaiserzeit erfreuten sich die Erechtheionkoren großer Beliebtheit und zählten zu den beispielhaften Werken der griechischen Klassik. Das führte dazu, daß sie im Gegensatz zu anderer Bauplastik häufig kopiert wurden. Die prominentesten der erhaltenen Kopien stammen vom Augustusforum in Rom und aus der Hadriansvilla in Tivoli. Diese Kopien ermöglichen auch eine sichere Ergänzung der bei unserer Figur (sowie den übrigen fünf Koren) verlorenen Unterarme. Um beide Arme waren Schmuckbänder gelegt, und in ihrer Rechten hielt die Figur eine sogenannte Omphalosschale. Solche Schalen fanden in der griechischen Antike zu unterschiedlichen Gelegenheiten Verwendung. Sie dienten als Trinkgefäße, wurden aber vor allem bei Opferhandlungen als Kultgerät benutzt.
Über die Deutung der Koren ist bis heute keine Sicherheit erreicht worden. Als Stützfiguren (Karyatiden) sind sie in der Architektur keineswegs singulär. Vergleichbare Vorläufer begegnen an den Schatzhäusern von Knidos (um 550) und Siphnos (vor 525) in Delphi. Der römische Architekt Vitruv erklärt Karyatiden als gefangene Sklavinnen. Diese Deutung wird man aber kaum auf unsere Figuren vom Erechtheion übertragen können. Es handelt sich vielmehr um vornehme attische Mädchen, deren Frömmigkeit durch ihre Teilnahme am Opfer (Omphalosschale) ausgewiesen ist. In der archäologischen Literatur wird immer wieder der Versuch gemacht, sie mit bestimmten Namen zu belegen, die mit einem der Kulte im Erechtheion in Verbindung stehen. Möglicherweise war eine Identifizierung der Koren mit bestimmten Personen oder Kultpersonal aber auch gar nicht beabsichtigt, und die Mädchen standen stellvertretend für die attische Bürgerschaft, die den Kulten im Erechtheion ihren frommen Dienst erwies.
J. M. Paton, Erechtheion (1942);
H. Lauter, Die Koren des Erechtheion, AntPl 16 (1976);
E. E. Schmidt, Die Kopien der Erechtheionkoren, AntPl 13 (1973);
U. Muss – Ch. Schubert, Die Akropolis von Athen (1988) 77ff. 121ff