Die Knabenstatue aus dem späten 5. Jh.v.Chr., allgemein als „Narkissos“ oder „Hyakinthos“ bezeichnet, ist in unserer Abgußsammlung durch drei Repliken vertreten: die Statue im Louvre und zwei Köpfe (aus Tralles, Inv. 668, und Kassel, Inv. 555; Glasvitrine im 2. Stock). Eine weitere Replik steht in der Glyptothek (Gl. 484).
Die Statue im Louvre weist nur geringe Ergänzungen auf und gibt von den über 40 erhaltenen Repliken das griechische Vorbild am vollständigsten wieder: Der nackte Knabe ist weit zu seiner linken Seite gebeugt und stützt sich mit dem durchgedrückten linken Arm auf einen Pfeiler, der einen großen Teil des Körpergewichts tragen muß. Der rechte Arm ist abgewinkelt nach hinten geführt, der Handrücken liegt auf der über dem Standbein herausgedrückten Hüfte auf. Der zur Seite und nach vorn geneigte Kopf berührt fast die linke Schulter, die durch das Aufstützen weit hinaufgeschoben ist. Der Blick ist zu Boden gerichtet. Der Knabe gehört nach dem fehlenden Schamhaar und nach seiner Größe - etwa 1,10 m - der Altersstufe der Paides (etwa 12 Jahre) an. Die metallisch scharfe Gestaltung des Haupthaares läßt erkennen, daß es sich beim Original um ein Bronzewerk handelte.
Beim modernen Betrachter ruft die Knabenfigur den Eindruck von Liebreiz und melancholischer Versunkenheit hervor. Dazu tragen die knabenhafte Schönheit des Körpers und besonders der gesenkte Blick bei. Die Statue wurde dementsprechend immer wieder mythologisch gedeutet, z.B. als Narkissos, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, oder als jugendlicher Götterliebling, wie Hyakinthos. Auch an Adonis dachte man, da einige Kopien mit einem Apfel in der rechten Hand auf den aphrodisischen Bereich hindeuten. Für die Interpretation des Originals scheidet dieses Attribut allerdings aus, da es sich anhand kopienkritischer Vergleiche als Zutat der römischen Künstler erweist.
Daneben wurde aufgrund derselben gefühlsmäßigen Einschätzung die Verwendung des Originals als Grabstatue erwogen. Das Motiv des aufgestützten Jünglings begegnet zwar seit dem späten 5. Jh.v.Chr. auf attischen Grabreliefs; Grabstatuen sind aus dieser Zeit jedoch nicht bekannt.
Die Deutung als Weihestandbild eines jungen Athleten ist dagegen am wahrscheinlichsten. Dafür spricht besonders die Nacktheit, da die Athleten ihren sportlichen Übungen grundsätzlich unbekleidet nachgingen. Auch der zum originalen Bestand gehörende Pfeiler verweist die Figur in den Bereich des Palaestralebens, wie Vasendarstellungen zeigen. Vielleicht stand unsere Figur ursprünglich in einem Heiligtum als Weihung eines Knabensiegers bei athletischen Wettkämpfen.
Im antiken Griechenland war die sportliche Betätigung in der Palaestra Hauptbestandteil der richtigen Erziehung, der paideía, denn die körperliche und die geistige Ausbildung gehörten nach damaligem Verständnis untrennbar zusammen. In der klassischen Kunst wurde daher der wohlerzogene Jüngling meist als vorbildlich trainierter Athlet dargestellt. Der zu Boden gesenkte Blick dieser Athletenstatuen entsprach den gesellschaftlichen Anstandsregeln, die von der Jugend eine zurückhaltende Schamhaftigkeit (gr. aidos) in der Öffentlichkeit verlangten. Unsere Figur ist damit am klassischen Athletenideal orientiert, wandelt es aber gleichzeitig in charakteristischer Weise ab. Denn die Reize des Knaben, die durch das Herausdrücken der Hüfte unverhüllt vorgeführt werden, unterstreicht der Künstler noch, indem er die Ermattung des Körpers durch das schwere Aufstützen auf den Pfeiler prononciert zum Ausdruck bringt. Eine derartige Betonung der Erschöpfung wäre bei klassischen Statuen ausgewachsener Athleten kaum möglich gewesen.
Bei der Knabenfigur wurde das Zusammenspiel von anständigem, wohlerzogenem Betragen und unverhüllter Koketterie offenbar nicht als Widerspruch aufgefaßt. Der Künstler konnte hier den sinnlichen Reiz eines erschöpften, aber dennoch geschmeidig schönen Athletenkörpers zeigen, ohne Anstoß zu erregen.
Stilistisch wird der „Narkissos“ einmütig in die direkte Nachfolge bzw. Schule des Polyklet eingeordnet. Sein Körperbau entspricht in den Proportionen und der Gliederung des Rumpfes polykletischen Statuen erwachsener Athleten wie dem Doryphoros (Abguß Inv. 368) oder dem Diadumenos (Abguß Inv. 107). Auch einzelne Motive sind bei Werken des Polyklet vorgegeben: der zur Spielbeinseite geneigte Kopf beim Epheben Westmacott (Abguß Inv. 374) und der nach hinten geführte Arm beim Herakles. In der Umsetzung des Kontrapost zeigt unsere Figur dagegen neuartige Züge.
Der Kontrapost, also das Wechselspiel zwischen angespannten und entlasteten Teilen des Körpers, hatte bei Polyklet den Sinn, die ganze Gestalt in einem ausbalancierten Gleichgewicht zu präsentieren, das ihre Leistungsfähigkeit ausdrückte. Hier dient er jedoch dazu, einen Gegensatz von geraden (linke Seite mit Pfeiler) und geschwungenen (rechte Seite mit gewinkeltem Arm) Konturlinien zu bilden, innerhalb derer der Künstler die Kräfte und Schübe übersteigert herausarbeitete. Die Vorderansicht der Statue erhält zudem eine größere Wirkung, wozu der Pfeiler als räumlicher Bezugspunkt beiträgt. Die Gesamtkomposition weist somit deutlich über die Schaffenszeit des Polyklet hinaus.
Der bildhafte Eindruck, der den Werken des Polyklet noch fehlt, ist charakteristisch für die Skulpturen des sog. Reichen Stils, des Beginns der Nachklassik in den letzten Jahrzehnten des 5. Jh.v.Chr. In dieser Zeit wird gesteigerter Wert auf die sinnliche Modellierung der Oberfläche gelegt, die auch beim „Narkissos“ zu beobachten ist. Demnach dürfte er in den Jahren 410 bis 400 v. Chr. entstanden sein. Aus der Überlieferung späterer Autoren (z.B. Plinius NH 34,19,50) ist zwar eine Reihe von Schülern des Polyklet bekannt; beim derzeitigen Forschungsstand läßt sich unsere Figur aber nicht auf einen dieser Künstler festlegen.
Dem römischen Geschmack kam offenbar der sinnliche Reiz des Knabenkörpers entgegen, denn die Kopisten neigten oft dazu, die weichlichen und kindlichen Formen zu betonen oder den Ausdruck der Figur zu sentimentalisieren.
Während unsere Statue im Louvre, aus der Mitte des 1. Jh.n.Chr., den Charakter des Originals recht genau überliefert, verlieh der späthellenistische Kopist dem Kopf aus Tralles durch den geöffneten Mund und die schwellende Stirnpartie einen pathetischen Ausdruck. Der Kopf in Kassel, der aus dem späten 2. Jh.n.Chr. stammt, zeigt dagegen eine klassizistische Strenge, die dem Original fehlte.
Einige der Repliken wurden von den Kopisten zu mythologischen Figuren umgedeutet, indem sie die entsprechenden Attribute hinzufügten; so ist eine Statue durch Kopfflügelchen als junger Hermes gekennzeichnet, andere sollten wegen der Äpfel, wie oben schon erwähnt, vielleicht Adonis oder auch Paris darstellen. Spiegelbildliche Versionen lassen an eine symmetrische Aufstellung zweier Repliken als Pendants denken. Die Kopien wurden wohl meist dekorativ in den Villen reicher, kulturbeflissener Römer aufgestellt oder konnten zur Ausstattung von öffentlichen Bauten dienen.
D. Arnold, Die Polykletnachfolge. 25. Ergh.JdI (1969) 54ff. Replikenliste 252ff.;
P. Zanker, Klassizistische Statuen (1974) 26f. (Umbildungen);
B. Vierneisel-Schlörb, Katalog der Glyptothek II (1979) 198ff. mit Nachträgen zur Replikenliste;
A.H. Borbein, GGA 234, 1982, 221f.;
Chr. Landwehr, Die antiken Gipsabgüsse von Baiae (1985) 110 ff.