Die Abgüsse geben Wiederholungen einer in römischer Zeit sehr beliebten Knabenstatue wieder, die heute meist nach der Replik in London als „Ephebe Westmacott“, nach einer Siegerstatue aus Olympia seltener auch als „Kyniskos“ (s.u.) bezeichnet wird. Das griechische Bronzeoriginal, welches diese Statuen kopieren, dürfte von Polyklet oder einem seiner Schüler stammen. Die Lebensgröße von ca. 1,50 m, der schlanke, noch wenig muskulöse Körper und das fehlende Schamhaar lassen den Epheben, d.h. die Altersstufe von 16 bis 18 Jahren erkennen.
Die gut erhaltenen Repliken in London und Castel Gandolfo zeigen beide das Standmotiv mit weit zurückgestelltem Spielbein und die Haltung des linken Armes und des geneigten Kopfes. Der rechte Arm war etwa waagrecht hochgehoben und zum Kopf hin abgewinkelt, wie der Schulteransatz und eine Variante des Statuentypus bezeugen.
Die insgesamt über 30 Kopf- und Statuenrepliken können uns indes keine vollständige Vorstellung vom Aussehen des Originals geben, denn die rechte Hand ist bei keinem Exemplar erhalten. So ist die Frage nach dem Gegenstand, den sie hielt, bis heute umstritten. Auch das unter den antiken Gispabgüssen von Baiae gefundene Handfragment, das dem Epheben zugeschrieben wurde, gibt keine eindeutigen Hinweise. Es wurden zahlreiche Rekonstruktionen erörtert, die z.T. versuchten, den Epheben mit einem der von Plinius (nat. hist. 34,55) genannten Werke Polyklets zu identifizieren. Der schon früh vorgeschlagenen Ergänzung mit einem Kranz stehen solche mit Strigilis, mit herabhängender Siegerbinde, mit Astragalen oder mit Waage gegenüber sowie die Annahme, die Hand sei in einer kultischen Geste ohne Attribut zum Kopf geführt gewesen. Ikonographische Parallelen (z.B. der Agon von Mahdia) machen aber einen sich bekränzenden oder den Kranz auf dem Kopf tragenden Knaben am wahrscheinlichsten. Ein weiteres Indiz könnte eine Kopfreplik (Soanes Museum, London) sein, die Reste eines Metallkranzes zeigt.
An die Rekonstruktionen schließt sich das Problem der Deutung des Originals unmittelbar an. Seitdem im vorigen Jahrhundert in Olympia die Basis der Siegerstatue des Boxers Kyniskos, die Pausanias (6,4,11) als Werk des Polyklet beschreibt, gefunden worden war, wurde der Ephebe immer wieder mit dieser Statue in Verbindung gebracht, da seine Fußstellung den Standspuren auf der Basis entspricht. Aus chronologischen Gründen ist diese Identifizierung heute jedoch von den meisten Forschern aufgegeben worden.
Unabhängig davon muß aber das griechische Original eine Siegerstatue dargestellt haben, wenn man an der Rekonstruktion mit Kranz festhält: Der Athlet setzte sich den Siegespreis auf den Kopf.
Solche Statuen waren Weihungen von Siegern in sportlichen Agonen an die im Heiligtum oder an der Wettkampfstätte verehrte Gottheit. Da die Athleten, ihre Familie oder ihre Polis die vermutlich recht hohen Kosten für die Anfertigung der Statue selbst übernahmen, wurde die Weihung, wenn überhaupt, häufig erst lange nach dem Sieg ausgeführt. Originale Siegerstatuen sind aus der Antike kaum erhalten. Von den zahlreichen Monumenten aus Olympia kennen wir fast ausschließlich die zugehörigen Basen oder die Beschreibungen bei Pausanias. Danach stammten die frühesten Statuen schon aus dem 6. Jh.v.Chr. Sie waren ohne Zweifel im Schema der Kouroi ausgeführt. Auch die späteren Statuen zeigen den Sieger meist ruhig stehend; eine Kennzeichnung der sportlichen Disziplin war offenbar selten. So wäre der Ephebe Westmacott durchaus als Weihung eines Siegers vorstellbar, zumal es überliefert ist, daß Polyklet Siegerstatuen angefertigt hat. Die starke Kopfneigung, mit der die Künstler der Hochklassik den emotionalen Ausdruck ihrer Figuren zu steigern versuchten, ließe sich hier als Geste der „Aidos“, der Bescheidenheit und Ehrfurcht des Athleten gegenüber dem Gott verstehen, dem er den Sieg verdankt. Unter den römischen Kopien unseres Typus sind Umbildungen zu Hermes und Dionysos und zu mythologischen Figuren wie Ikaros oder Adonis bekannt. Dies wurde als Hinweis darauf angesehen, daß auch die Vorlage der göttlich-heroischen Sphäre angehörte. Es hat sich jedoch gezeigt, daß griechische Originale in erster Linie wegen ihres ästhetischen Wertes als Vorlage für die römische Idealplastik dienten und je nach Zeitgeschmack und gewünschtem Thema in ganz unterschiedlicher Weise abgewandelt wurden. Die ursprüngliche Bedeutung des Originals war dabei durchaus zweitrangig.
Gewisse Unterschiede lassen sich auch zwischen den beiden ausgestellten Kopien erkennen: Während die im 2. Jh.n.Chr. entstandene Kopie in London mit ihrer knapp und gespannt modellierten Körperoberfläche und ihren linearen Unterteilungen dem großflächigen Original des 5. Jh.v.Chr. nahe kommen will und als eine der getreuesten Repliken des Typus gilt, versuchte der Kopist die Statue Inv. 374 (Mitte des 1. Jh.v.Chr.) durch weichere Übergänge in Muskulatur und durch volles Karnat etwas lebendiger zu gestalten; man betrachte nur die leicht hängenden Brustmuskeln. In diesen Unterschieden drücken sich Stil und Geschmack der jeweiligen Entstehungszeit der Kopien aus.
Die Autorschaft Polyklets für das Original wird heute kaum mehr diskutiert (vgl. noch Alscher). Der konsequent durchgeführte kontrapostische Aufbau des Epheben folgt den gleichen Prinzipien wie der des Doryphoros (s. Abguß Inv. 368; 277; 660): Stand- und Spielbein sind markant unterschieden, jede daraus resultierende Anspannung eines Körperteils wird mit der Entspannung des gegenüberliegenden beantwortet, jede Bewegung mit einer Gegenbewegung. Die Figur des Epheben befindet sich wie der Doryphoros oder der Diadumenos in einem labilen Gleichgewicht, das die Bewegungsfähigkeit des Körpers ausdrücken soll.
Die Stellung unserer Statue im Werk des Meisters ist jedoch umstritten. Je nachdem, wie man die künstlerische Entwicklung des Polyklet beurteilt, wird der Ephebe näher zum Doryphoros (um 440 v. Chr.), näher zum Diadumenos (um 420 v. Chr.) oder danach angesetzt. Folgende Beobachtungen lassen sich hierzu anführen: Die Kurve des Körpers schwingt deutlich weiter aus als beim Doryphoros, im Gegensatz zu diesem ist der Kopf zur Spielbeinseite geneigt; der Schwerpunkt der Figur liegt wegen des gehobenen Armes ähnlich wie beim Diadumenos optisch weiter oben. Eine Datierung kurz vor dem Diadumenos erscheint somit vertretbar.
Th. Lorenz, Polyklet (1972) 34ff.; P
. Zanker, Klassizistische Statuen (1974) 19ff. (zu Typus und Umbildungen mit früherer Literatur);
L. Alscher, Griechische Plastik II 2 (1982) 174ff.;
A.H. Borbein, GGA 234, 1982, 213ff. (ausführlich zu Rekonstruktion und Datierung);
Chr. Landwehr, Die antiken Gipsabgüsse von Baiae (1985) 94ff.
Zu Siegerstatuen: H.-V. Hermann, Olympia (1972) 114ff.
Der Kleine Pauly V (1975) 178f. s. v. Siegerstatuen.