Die Größe des Knaben von 1,47 m entspricht ungefähr seiner Altersstufe. In halb lässiger, halb angespannter Haltung lehnt er an einem Pfeiler. Bekleidet ist er mit einem kurzen Chiton mit kurzen Ärmeln und einem ebenso kurzen Mantel, der ganz um den Körper geführt und nur auf der rechten Schulter zusammengehalten ist. Er trägt Strümpfe und Sandalen, deren gitterartige kunstvolle Verschnürung fast bis an die Waden heranreicht. Das Gewicht des Knaben ruht auf dem rechten Bein, das linke ist etwas nach vorn geführt und quer über das rechte geschlagen. Vom linken Fuß können nur die kleinen Zehen leicht den Boden berührt haben und mögen so den Eindruck eines leicht unruhigen Standes hervorgerufen haben. Die Haltung der Arme zeichnet sich unter dem dicken Stoff des Gewandes ab. Der rechte greift in den hinteren Saum des Mantels und zieht ihn fast schwungvoll nach vorn, der linke ist im Ellbogen eingeknickt, der Unterarm liegt quer vor der Brust. Die strafferen Zugfalten, die von der Hand ausgehen, deuten darauf hin, daß auch hier eine Bewegung gemeint ist, die das Gewand zurechtrückt und ordnet. Von einem Ruhegestus kann demnach nur bei flüchtigem Hinsehen die Rede sein. Der Kopf des Knaben ist relativ stark zur Standbeinseite hin geneigt. Sein Umriß ist eigenwillig, vor allem das Untergesicht eher kantig als schönlinig. Die Haare fallen in sichelförmigen kurzen Locken, womit sie an Frisuren des 5. Jh.v.Chr. erinnern. Die Ohren sind deutlich geschwollen.
Eben diese Wiedergabe der Ohren und die muskulösen Beine weisen unsere Statue als jungen Athleten, genauer als Boxer oder Fünfkämpfer aus. Der Pfeiler wäre dann als Hinweis auf die Palästra zu verstehen, wo er als Grenzmarkierung (Start, Wendepunkt, Ziel) oder auch zum Ablegen der Mäntel diente. Als obere Ergänzung käme dann ein ornamentaler Abschluß in Betracht, wohl eher als ein Hermenkopf oder ein Gefäß.
Für einen Athleten ungewöhnlich ist jedoch die enge Einhüllung in einen dicken Mantel. Die Athleten des 5. Jh. präsentieren sich völlig nackt; in ihrer Nacktheit drückt sich athletische Schönheit und Jugendlichkeit aus, die Hauptstützen ihres sportlichen Erfolgs. Das Wesentliche am Athleten war lange Zeit sein durchtrainierter Körper. Gerade seine Schönheit war Lob und Auszeichnung, eine jede Verhüllung des Körpers hätte eine Einschränkung dieser Verehrung bedeutet.
Beim Knaben von Tralles werden andere Aspekte stärker betont. Zunächst trägt er die Tracht, die auch zu Kriegern, Reitern und vor allem zu den Epheben, den jungen Männern während ihrer militärischen Ausbildung gehört. Das Athletentum scheint demnach nur ein Aspekt der Darstellung zu sein, wichtiger ist die darüber hinaus gehende Nützlichkeit des militärisch geschulten Epheben für die Polis.
Der eigentliche Reiz des Knaben, den moderne Betrachter immer wieder beschwören, scheint dabei auf seiner Zurückhaltung zu beruhen. In der Forschung ist von „Anmutigkeit“ und „Versonnenheit“ die Rede, sogar von einem „Geheimnis“, das der Knabe hüte. In der Tat bietet gerade die Kopfneigung in Verbindung mit der Knabenhaftigkeit ein reizvolles Moment, das man auch mit Schamhaftigkeit umschreiben könnte. Der Knabe präsentiert sich eben nicht in der selbstbewußten Weise wie manche Jünglingsstatuen des 4. Jh. (z.B. Sisyphos II aus dem Daochos-Weihgeschenk in Delphi).
In welcher Zeit ist nun ein solches Knabenideal, wie es unserer Knabenstatue zugrunde liegt, vorstellbar? Und - diese Frage muß vor jedem Datierungsversuch gestellt werden - ist der Knabe von Tralles ein griechisches Original oder eine römische Kopie?
Für ein Original wurde die hervorragende Marmorarbeit ins Feld geführt. Das Argument ist nicht sehr überzeugend, da auch Kopien durchaus von hoher Qualität sein können. Für eine Kopie spricht, daß ein Statuentorso im Thermenmuseum in Rom so weit mit unserer Statue aus Tralles verwandt ist, daß man ein gemeinsames Vorbild beider Statuen annehmen muß. Dieses Vorbild kann in die Zeit des frühen Hellenismus datiert werden, in dem man am ehesten Parallelen zum geometrisch anmutenden Aufbau der Figuren, zur Strenge der Mantelführung und dicken Stofflichkeit der Gewänder findet.
Wir wissen damit noch nicht, wie dieses Vorbild genau ausgesehen hat, da sich die Statuen aus Rom und Tralles in einigen Punkten unterscheiden. Der Knabe aus dem Thermenmuseum stand frei und ohne Stütze. Entsprechend anders war die Beinhaltung. Die Seitenansicht zeigt, wie wenig vorgesetzt das linke Bein war; zudem lagen die Knie zu weit auseinander, als daß der Knabe seine Beine übereinandergeschlagen hätte. Den etwas fragilen Stand des Knaben von Tralles hatte dieser Knabe wahrscheinlich nicht.
Es gibt nun einige Argumente dafür, daß im römischen Torso eine genauere Kopie vorliegt und der Knabe aus Tralles eher eine Umbildung des erschlossenen Vorbilds ist. Für die Körperhaltung des Torsos aus Rom nämlich lassen sich eher Vergleichsbeispiele aus spätklassisch-frühhellenistischer Zeit finden als zum Motiv des Knaben von Tralles. Hier werden zudem verschiedene Stilmerkmale verbunden, die man isoliert in unterschiedliche Jahrhunderte datieren könnte. Die Frisur schließt zwar an Frisuren des 5. Jh. an, doch die Flüchtigkeit und starke Vereinfachung des polykletischen Lockenschemas können auch auf eine spätere Zeit zurückzuführen sein, in der häufig auf klassisches Formengut zurückgegriffen wurde, wie z.B. in der späten römischen Republik und frühen Kaiserzeit. Die Arbeit wäre dann die eines klassizistischen Bildhauers, der nur den Eindruck und nicht den wirklichen Aufbau polykletischer Frisuren einzufangen suchte. Das Gesicht trägt mit seinem kantigen Umriß und doch weichem Karnat einen fast individuellen Ausdruck zur Schau, der gar nicht in klassische Zeit passen will. Der lächelnde, leicht geöffnete Mund mit seiner gut sichtbaren oberen Zahnreihe kommt einer Ausdruckssteigerung gleich, die bei anderen Knaben des 4. Jh. nicht zu beobachten ist. In der Forschung wurde dafür wiederum ein wenn auch in hellenistischer Tradition stehender klassizistisch-eklektischer Bildhauer angenommen, und demnach wurde das Werk in das 1.Jh.v.Chr. datiert.
Dabei muß den Klassizisten das knabenhafte Motiv gereizt haben, dem er anschließend durch die stimmungsvolle Neigung gegen den Pfeiler und den veränderten Stand mehr jugendliche Ungeduld und Sentiment verliehen hat.
Die ursprüngliche Funktion der Statue ist nur zu vermuten. Das Original kann wie das Daochos-Monument (s.o.) eine Weihestatue gewesen sein, doch auch eine Grabstatue für einen Epheben ist nicht auszuschließen. Weniger wahrscheinlich ist eine Siegerstatue für einen jungen Athleten.
Der Knabe von Tralles ist aufgrund seiner stimmungsvollen Haltung oft als Grabstatue bezeichnet worden, die sich in „Todesmüdigkeit“ gegen den eigenen Grabpfeiler lehne. Gegen diese vielleicht doch zu moderne Einschätzung spricht der Fundort. Möglicherweise fand der Knabe tatsächlich Aufstellung in dem „öffentlichen Gebäude mit Portikus“, das (nach H. Sichtermann) ein Gymnasion oder eine Palästra gewesen sein könnte.
H. Sichtermann, AntPl IV (1965) 71ff;
H. v. Steuben, Ist.Mitt. 22, 1972, 133ff. (Torso Rom);
F. Matz, Gnomon 40, 1968, 492;
H.P. Laubscher, Ist.Mitt. 16, 1966, 125ff;
M. Bieber, Griechische Kleidung (1928), 69;
Zum Daochos-Monument: T. Dohrn, AntPl. VIII (1968) 33ff.