Die Statue eines alten, gefesselten Kentauren ist, neben einigen Kopfrepliken, in zwei mehr oder weniger vollständigen römischen Kopien überliefert. Das eine Stück wurde 1736 von dem späteren Kardinal Alessandro Furietti bei Ausgrabungen in der sog. »Accademia« der Villa Hadriana bei Tivoli gefunden. Es befindet sich heute in den Kapitolinischen Museen in Rom. Die Statue ist in grauschwarzem Bigio morato gearbeitet und auf der Basis von den aus dem kleinasiatischen Aphrodisias stammenden Kopisten Aristeas und Papias signiert. Die Figur wurde vermutlich speziell für die Ausstattung der Villa Hadriana geschaffen und ist in späthadrianische Zeit zu datieren. Eine weitere Replik dieses Typus, der sogenannte »Kentaur Borghese« kam bereits Anfang des 17. Jhs. bei Ausgrabungen auf dem Caelius zu Tage, wo die aus weißem Marmor gefertigte Statue, die wohl in flavischer Zeit entstanden ist, eine der reichen Vorstadtvillen Roms schmückte. Die Skulptur gelangte bald nach der Auffindung in die Sammlung Borghese, die später nach Paris überführt wurde.
Beide Kopien geben in leichten Variationen dasselbe griechische Original wieder, das in der 2. Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. entstanden sein muß und einen alten, bärtigen Pferdemenschen darstellte, der sich mit auf den Rücken gefesselten Händen gequält zu einem auf seinem Rücken sitzenden Störenfried umwendet. Die borghesische Statue überliefert als einzige Replik den auf dem Kentaurenrücken sitzenden Eros, der der Gruppe erst ihren Sinn verleiht. Der geflügelte Knabe sitzt mit gespreizten Beinen auf der Kruppe des Untieres. Um seinen dicklichen Bauch ist ein Gürtel geschnallt, wie ihn auch die Wagenlenker beim Pferderennen tragen. In der erhobenen Rechten hielt er eine Peitsche oder ein Kentron, während die Linke in das wilde Haar des Pferdemenschen greift, um diesem seinen Willen aufzuzwingen. Mit ernstem Blick beobachtet der korymbenbekränzte Erot seinen Gegner, um etwaigen Widerstand sofort niederzuzwingen. Von diesem Kentaurenbezwinger sind an der Replik aus der Villa Hadriana nur Ansatzspuren auf der Pferdekruppe erhalten. Dort war die Figur wohl aus anderem Material gefertigt und leicht schwebend in einer komplizierten Konstruktion über dem Pferderücken angebracht. Diese technische Schwierigkeit scheint der römische Kopist am Kentauren Borghese mit einer einfacheren Lösung, dem festen Sitz des Knaben auf dem Pferderücken, umgangen zu haben. Überhaupt erweist sich der Furietti-Kentaur als die komplexere, detailreichere und wohl auch treuere Wiedergabe des hellenistischen Originals. Dies zeigt sich etwa bei den weiteren Attributen, die diese Statue überliefert: Über die linke Schulter des Pferdemenschen fällt ein Pantherfell herab, dessen Schweif zur Fesselung der auf dem Rücken liegenden Hände mitbenutzt wurde. Darüber hinaus sind die Handgelenke durch weitere Stricke zusammengebunden, von denen ein Ende seitlich über den Rücken des Pferdemenschen herabfällt. Im Haar des Kentauren lag einst ein Weinlaubkranz, von dem sich Ansätze am Hinterkopf erhalten haben, der aber an dieser Replik größtenteils aus anderem Material (Bronze?) gefertigt gewesen sein dürfte. Die Baumstammbasis mit den Zimbeln ist dagegen eine römische Kopistenzutat, denn das griechische Original war wahrscheinlich aus Bronze und bedurfte daher keiner von außen sichtbaren Stütze. Aristeas und Papias versuchten, dieses Bronzeoriginal mit vielen aufwendigen Kunstgriffen nachzuahmen. Schon das Material, der grauschwarze Bigio morato, kommt dem Farbeindruck patinierter Bronze nahe. Bemerkenswert sind auch die vielen freistehenden Haarspitzen, die die Marmorbildhauer mit miniaturhaften Stegen abstützen mußten, die feine Gravur der Haare an Kopf und Körper und die metallisch wirkende Politur der glatten Flächen.
Zum Teil kommt hier ein manchmal etwas zur Übertreibung und Übersteigerung der Formen neigender, typisch aphrodisiasischer Bildhauerstil zum Tragen, doch dürfte die Kopie dieser Künstler dem griechischen Original in vielem näherstehen als die stark reduzierte Skulptur aus dem Louvre.
Der alte Kentaur steht nicht für sich allein, sondern besitzt ein jugendliches Pendant, einen jungen, satyresken Kentauren, der im Gegensatz zum leidenden Alten freudig erregt dahertrabt und fröhlich mit den Fingern schnipst. Eine Kopie dieses in der Münchner Gipssammlung bisher nicht vertretenen Typus wurde zusammen mit dem alten Kentauren von Furietti in der Villa Hadriana entdeckt, andere Repliken stammen aus den verschiedensten Teilen des römischen Reiches. Auch auf dem Rücken des jugendlichen Kentauren saß ein Erot, über seinen linken Arm fiel ein Schweinsfell – in der Antike ein Symbol für das weibliche Geschlecht – herab. Ganz offensichtlich genoß der Junge die Freuden, die Eros ihm schenkte. Das gegensätzliche Paar, der gefesselte, gequälte Alte und der glückerfüllte Junge thematisieren in der Art eines hellenistischen Epigramms die verschiedenartigen Effekte, die das Auftreten des Eros in verschiedenen Altersstufen haben kann. Dem Jungen, sexuell Erfolgreichen, bereitet die Anwesenheit des Eros die höchste Freude, dem Alten, dem die Erfüllung seiner Wünsche verwehrt bleibt, ist das Erscheinen dieses Gottes nur Leid und Qual.
Dass nun gerade die Kentauren solcherart vorgeführt werden, hängt mit den Charaktereigenschaften zusammen, die diesen Mischwesen, die nach dem Mythos aus den waldreichen Bergen Thessaliens stammten, in der Antike zugeschrieben wurden. Was diesen Untieren – halb Mensch, halb Pferd – fehlt, ist die Kunst, die Gaben der Götter maßvoll zu genießen. Ihre Hybris führt sie zur Trunksucht, zum Jähzorn und zur Aufgabe der sexuellen Selbstbeherrschung. Vor allem lieben sie den Wein, unter dessen Einfluß sie sich besonders leicht zu ihren Schandtaten hinreißen lassen. So werden die Pferdemenschen zum Symbol für ungebührliches und unbeherrschtes Benehmen. Gerade ihre Weingier prädestiniert die Ungeheuer dann auch für das Gefolge des Dionysos, in das sie im 4. Jh. v. Chr. aufgenommen werden. Als Gefolgschaft dieses Gottes ist auch unser Kentaurenpaar durch seine Kränze gekennzeichnet. Die Pferdemenschen stehen also nicht nur unter dem Einfluß des Gottes der Liebe, sondern auch unter dem des Weingottes.
Die Gruppe thematisiert so das Spannungsfeld der Erotik zwischen Jugend und Alter, Beherrschtheit und Zügellosigkeit, Liebe und Wein ganz in der Art, wie dies auch hellenistische Dichter gerne tun. Daß Liebesfreud und -leid unkontrollierbar dem Einzelnen von äußeren Mächten aufgezwungen werden, sich das Leid unter Umständen zu Zuständen höchsten physischen Schmerzes steigert, ist dabei ein typischer Zug der hellenistischen Zeit. Daß die Qualen des alten Kentauren durchaus auch einen genußvollen Beigeschmack haben könnten, mag eine scherzhafte Sentenz des späteren Rufinos verdeutlichen, der bemerkt: »So ich auch Mensch bin, ich biete dem Gotte (Eros) die Stirne. Doch kommt ihm Bakchos zu Hilfe, was kann einer allein gegen zwei«.
G. Morawietz, Der gezähmte Kentaur (2000)