Unsere Abgußsammlung besitzt drei untereinander leicht differierende Kopien einer berühmten Fischerdarstellung des späten 3. Jh.v.Chr. Neben diesen Statuen sind uns sieben weitere Torsen, sechs Köpfe und drei kleine Statuetten bekannt, die auf dasselbe Urbild zurückgehen.
Dargestellt ist ein alter Mann, der mit eingeknickten Knieen, vorgebeugtem Oberkörper und ruckartig nach vorne gestrecktem Kopf fest auf beiden Beinen steht. In seiner linken Hand trägt er einen Korb mit Fischen, in der rechten hielt er vermutlich eine Angel, wie man an den Fragmenten anderer Kopien erkennen kann. Bis auf ein um die Hüften geschlungenes Tuch ist die Gestalt nackt. Der Kopf wird charakterisiert durch einen starren Blick, einen dicklippigen, leicht geöffneten Mund, eine breite Nasenwurzel, wulstige Augenbrauen und einen schütteren Bart. Das fortgeschrittene Alter des Fischers ist in der angestrengten, gebeugten Haltung und der ledrigen, schlaffen Haut an Brust und Bauch gut erfaßt.
Verschiedene Indizien sprechen dafür, daß es sich bei dem zugrunde liegenden Original um eine Bronzestatue gehandelt hat. So sind z.B. verschiedene Kopien aus dunklem Marmor bzw. Basalt gearbeitet, was vermutlich Bronze nachahmen soll. Die Statuenstützen sind - soweit erhalten - von sehr unterschiedlicher Gestalt (bei der Statue im Vatikan z.B. ein Baumstamm), gehören also nicht zum originalen Bestand der Statue. Da ohne Stütze jedoch nur Statuen aus Metall im Gleichgewicht zu halten sind, weist auch dieser Befund auf ein Bronzeoriginal. Die Repliken im Vatikan und im Louvre scheinen die Größe des Originals wiederzugeben, das demnach knapp lebensgroß war.
Die vollständigste Vorstellung vom hellenistischen Urbild gewinnen wir durch die Replik im Vatikan. Etwas verfälschend wirkt nur die ergänzte rechte Hand, die in Wirklichkeit wohl eine Angel umfaßte, und das länglich ergänzte Untergesicht. Die beiden die Scham bedeckenden Enden des Schurzes wurden von einem Ergänzer des Vatikan in Stuck hinzugefügt. Bei der Kopie im Louvre sind Arme und Beine und das Hüfttuch ergänzt. Die Form des Gesichtes gibt diese Replik richtig wieder.
Der Fischer galt in der Antike als Inbegriff des Hungerleiders, mußte er sich doch tagtäglich Wind und Wetter aussetzen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seine Arbeit galt als schwer und damit als Körper und Geist zerstörend. Anders als für Philosophen und Dichter, bei denen Alter mit Erfahrung und Weisheit gleichgesetzt wurde, galt Alter für Menschen, die zum Broterwerb auf ihre Körperkraft angewiesen waren, als besonders verächtlich. So zeigt die hellenistische Kunst an beiden Personengruppen deutlich Alterserscheinungen, doch nur beim Fischer werden sie kombiniert mit physiognomischen Merkmalen, die ihn als Menschen niedriger Art und übler Gesinnung ausweisen. Aus den pseudoaristotelischen Schriften über Physiognomik wissen wir, daß die Zeitgenossen große Ohren, wulstige Lippen, einen stieren Blick und eine klobige Nase mit Dummheit, Stumpfsinn, Trägheit und Schamlosigkeit verbanden. Menschen mit schütterem Bart wurden mit Affen verglichen, die als bösartig und lächerlich galten. Seinem Beruf entsprechend trägt der Fischer einen knappen Stoffschurz, der ihm das Stehen im Wasser ermöglicht. Oberhalb des Glieds ist das Tuch geknotet, und die Enden fielen beim Original auf beiden Seiten der Scham herab, ohne sie zu verdecken. Als schamloser Mensch verhüllt er mit seinem Schurz gerade das nicht, was er verhüllen sollte. An dieser Auswahl von Negativmerkmalen erkennt man, daß hier nicht die Darstellung der Realität intendiert ist, sondern eine bestimmte negative Aussage über den Dargestellten. Nach antiker Auffassung hatte ein häßlicher Mensch, der zugleich arm war, auch einen schlechten Charakter und umgekehrt. Er war damit selbst Schuld an seinem Elend. Eine sozialkritische Komponente fehlt einer solchen Statue völlig, und Mitleid kam dem antiken Betrachter gewiß nicht in den Sinn.
Das hellenistische Urbild dieser Fischerstatue war wahrscheinlich als Votiv in das Heiligtum einer Wassergottheit geweiht. Vielleicht war der Fischer angelnd an einem Teich oder kleinen Flußlauf inmitten eines parkartigen heiligen Bezirks aufgestellt.
Der Stifter war mit Sicherheit kein armer Fischer, der sich ein solch kostspieliges Bronzeweihgeschenk nie hätte leisten können, und auch Fischergilden kommen als Auftraggeber wohl nicht in Betracht. Wahrscheinlicher ist ein wohlhabender Stifter, der durch sein Votiv ein landschaftlich gestaltetes Heiligtum stimmungsvoll beleben wollte.
Die römischen Kopien kommen fast ausnahmslos in dekorativer Verwendung vor, und zwar meist in Verbindung mit Wasser, so dienten sie z.B. als Brunnenschmuck oder wie der Torso in Ostberlin aus Aphrodisias als Thermenausstattung.
Das Urbild der Fischerstatue läßt sich anhand stilistischer Vergleiche in das späte 3. Jh.v.Chr. datieren. Einen Fixpunkt dafür stellt z.B. das Porträt des Philosophen Chrysipp (Abguß Th.38) dar, dessen Entstehung durch Chrysipps Todesjahr 205/4 annähernd genau datiert werden kann.
Ein Vergleich der einzelnen Kopien untereinander ergibt, daß ein Kopf in Konya und ein Torso in Syrakus uns das Urbild am getreuesten überliefern. Die beiden antoninischen Kopisten der Statuen im Louvre und Vatikan geben das Original im wesentlichen getreu wieder, verändern jedoch durch ihre Handschrift die Körpermodellierung des Originals auf unterschiedliche Weise. Bei der Statue im Louvre wurde großer Wert auf eine unruhige Oberflächengestaltung gelegt, so überzieht z.B. ein Netz von scharf hervortretenden Adern die Brust des Fischers, wohingegen die vatikanische Kopie das Vorbild eher zu verflachen scheint.
Deutlich gegenüber den beiden Kopien im Vatikan und Louvre abzusetzen ist der Torso in Ostberlin. Er wirkt gestreckter und drängt die Alterszüge zugunsten einer muskulösen Sehnigkeit zurück. Sein umgebundenes Tuch ist komplizierter geschlungen als beim Original und bedeckte die Scham. Der Kopist wich in diesen Punkten offensichtlich bewußt vom Urbild ab und paßte es dem römischen Geschmack an. Sein Fischer sollte als stimmungsvolle Thermendekoration dienen, das bekannte Kunstwerk wurde nur als ungefähre Vorlage benutzt.
Im 16. Jh. glaubte man in der Kopie des Fischers, die sich heute im Louvre befindet, den römischen Philosophen Seneca zu erkennen. Die Haltung der Figur verband man mit dem Bericht vom Tode Senecas. Er hatte sich die Pulsadern geöffnet, und da das Blut seinem Körper nur langsam entströmte, sich auch die Adern der Oberschenkel und Kniekehlen durchschnitten. Auf Grund ihrer falschen Benennung war die Statue im Louvre lange Zeit in einem Becken aus buntem Marmor aufgestellt. In diesem Zustand diente sie Rubens im Jahr 1606 zu dem großen Bild vom Tode Senecas als Vorbild. Das Gemälde befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München.
H. P. Laubscher, Fischer und Landleute (1982);
E. Bayer, Fischerbilder in der hellenistischen Plastik (1983) 17ff.;
dies., IstMitt 34, 1984, 183ff.