Beide Figuren wurden zwischen 1706 und 1713 zusammen mit einer weiteren Kleinen Herkulanerin im Theater von Herkulaneum gefunden. Ihre Entdeckung gab die Veranlassung zur Ausgrabung der 79 n. Chr. verschütteten Stadt. Es handelt sich um römische Kopien republikanischer Zeit. Das Material ist großkristallinischer, vermutlich italischer Marmor.
Große Herkulanerin: Höhe 1,95 m
Bruch am Hals und in Schenkelhöhe; ergänzt: die beidseits des Kopfes herabhängenden Gewandteile, das über den linken Arm herausragende Gewandstück, Daumen, Zeige- und dritter Finger der rechten Hand.
Kleine Herkulanerin: Höhe 1,70 m
Ergänzt: beide Hände, die Zehen des rechten Fußes, einzelne Gewandteile.
Die beiden Frauen sind in einen dünnen Chiton und einen etwas dickeren Mantel gehüllt. Sie tragen Sandalen mit halbhoher Sohle und die sog. „Melonenfrisur“. Die sog. Große Herkulanerin ist durch den über den Kopf gezogenen Mantel und ihre Größe als Matrone gekennzeichnet. Beide halten keine Attribute in den Händen, sondern sind ausschließlich mit ihrem Gewand beschäftigt. Auffallend sind dabei die fest in den Mantel gewickelten Hände, ein Motiv, das in dieser Zeit sehr beliebt war und das wir von zahlreichen Grabrelieffiguren her kennen. Es scheint die angemessene Darstellungsform vornehmer Frauen wiederzugeben und darüber hinaus vielleicht auch die adäquate Auftretens- und Verhaltensweise einer Frau in der Öffentlichkeit.
Die Deutung der Figuren ist bisher nicht gesichert. Winckelmann sah in den Statuen Vestalinnen, jedoch mußte diese Deutung sehr bald aufgegeben werden, da sie von bekannten Vestalinnendarstellungen widerlegt wurde. Die meisten Forscher sehen in den Figuren Darstellungen von Demeter und Kore. Zu dieser Deutung würde der Altersunterschied der beiden Frauen gut passen. Als ein weiteres Argument wurden sieben römische Kopien der Herkulanerinnen angeführt, die durch Mohn und Getreideähren als Ceres-Demeter gekennzeichnet sind. Andere Forscher schließen diese Deutung jedoch aus, weil schon in späthellenistischer Zeit Grabfiguren die beiden Typen übernehmen. Wären die Herkulanerinnen ursprünglich Göttinnenstatuen gewesen, muß eine derartige Verwendung ihres Typus schon zu dieser Zeit Staunen erregen. Griechische Grab- und Ehrenstatuen verwenden keine Göttertypen, sieht man von der Selbstdarstellung hellenistischer Herrscher einmal ab. Noch ein weiterer Punkt scheint gegen die Deutung als Demeter und Kore zu sprechen. Weder Urkunden- noch Weihreliefs spätklassischer Zeit greifen die Manteldrapierungen der Herkulanerinnen für Demeter und Persephone auf. Auch die eng in den Mantel gehüllten Hände, die keine Attribute tragen können, finden sich bei bekannten Göttinnendarstellungen der Zeit vor und um 300 v. Chr. nicht. Vielmehr findet sich eine solche Einhüllung des Armes und der Hand bei bekannten Rednerstatuen, wie etwa der Sophokles- oder Aischinesstatue. Angesichts dieser Argumente scheint es angebrachter zu sein, in diesen beiden Statuen keine Göttinnen, sondern Darstellungen sterblicher Frauen zu vermuten. In Anlehnung an die statuarische Darstellung berühmter Dichter, Redner und Philosophen wie Sophokles und Aischines wird es sich bei den sog. Herkulanerinnen wohl auch um bekannte Frauen gehandelt haben. Ob die berühmten Dichterinnen Myro und Anyte aus dem 4. Jh.v.Chr. gemeint sind, muß hingegen fraglich bleiben, da es keine gesicherten Dichterinnenbildnisse oder -statuen gibt, die Aufschluß über die Darstellungsform von Dichterinnen im allgemeinen und in dieser Zeit im besonderen geben könnten.
In römischer Zeit waren beide Statuentypen außerordentlich beliebt. Kruse führt in seinem Katalog 153 Statuenwiederholungen der Großen und 125 der Kleinen Herkulanerin an, die ausschließlich dem 2. Jh.n.Chr. angehören. Die Typen waren im gesamten römischen Reich verbreitet und wurden vor allem für Grab- und Ehrenstatuen verwendet. Die Veränderungen der Kopisten beschränken sich auf die individuelle Gestaltung des Kopfes mit Porträtzügen sowie auf die wechselnde Bedeckung des Kopfes.
Einmütig wurde bisher in der Forschung gesehen, daß die Figuren unterschiedliche Entwicklungsstufen verkörpern, womit auch ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit in Frage gestellt wurde. Die Große Herkulanerin ist eindeutig dem klassischen Formengut verpflichtet. Dagegen weist die Kleine Herkulanerin in ihrer Formgebung und Komposition bereits in den frühen Hellenismus. Die Große Herkulanerin erscheint im Vergleich zur Kleinen Herkulanerin noch von einem einheitlichen, freien Schwung erfaßt. Sie zeigt eine ausgewogene, gleichmäßig in die Fläche gebreitete Komposition. Der Körper drückt sich an den entscheidenden Stellen wie Brust, Bauch und Hüfte durch das Gewand durch und wird durch markante Faltenzüge hervorgehoben. Die Kleine Herkulanerin zeigt diesen einheitlichen Schwung nicht mehr, vielmehr sind die einzelnen Körperteile unvermittelt nebeneinandergesetzt. Die Figur wirkt in ihren Umrissen blockhaft, ihr Schrittstand sperrig und ungelenk. Die Gewanddrapierung und die Faltengebung tragen nicht zur Gliederung des Körpers bei, sondern verunklären ihn vielmehr. So ist das Standbein nur anhand des Fußes zu ermitteln. Die genannten Kriterien rücken die Kleine Herkulanerin in die Nähe der inschriftlich einigermaßen sicher in die 1. Hälfte des 3. Jh.v.Chr. datierten Nikeso von Priene (Abguß Inv. 275). Die Große Herkulanerin ähnelt im Körperschwung noch der Statue des Sophokles im Lateran (Abguß Inv.47), die wohl um 330 v. Chr. aufgestellt wurde. Die knittrigen Falten deuten aber schon eine fortgeschrittenere Entwicklungsstufe an, wie sie etwa die um 310 v. Chr. zu datierende Statue des Aischines in Neapel (Abguß Inv. 221) vertritt. Die stilistischen Unterschiede zwischen den beiden Statuen müssen jedoch nicht zwingend auf eine unterschiedliche Entstehungszeit der Figuren hindeuten. Angesichts der motivischen Ähnlichkeiten beider Figuren erscheint die Entstehung der Originale um 300 v. Chr. sowie ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit durchaus möglich.
Die beiden Originale wurden Praxiteles oder seinem nächsten Umkreis zugeschrieben. Dagegen hat Klein den spätklassischen Bildhauer Lysipp als Schöpfer der beiden Werke vermutet; Karusu schreibt das Original der Großen Herkulanerin einem nordpeloponnesischen Meister zu, während sie die Kleine Herkulanerin für das Werk eines attischen, nachpraxitelischen Künstlers hält.
Ein weiteres Problem stellt die Beziehung der beiden Statuen in der ursprünglichen Aufstellung dar. Karusu hat sich zuletzt für die Trennung beider Typen eingesetzt, da sie frei gestanden haben müssen, wie die reichen Seitenansichten zeigen. Nach Protzmann ließe sich eine Aufstellung auf getrennten Basen mit relativer Sicherheit schon für die originalen Statuen denken, wobei die Figuren gleichwohl aufeinander bezogen sein könnten.
M. Bieber, Sculpture of the Hellenistic Age (1961) 22;
dies., ProcAmPhilSoc 106, 1962, 111f;
R. Horn, Gewandstatuen (1931) 18,20;
S.Karusu in: AM 84, 1969, 151ff.;
G. Kruse, Weibliche Gewandstatuen des 2.Jh.n.Chr. (Diss. 1958) 228f.;
H. Protzmann, Die Herkulanerinnen und Winckelmann. Hrsg.K. Zimmermann (1977) 33ff. mit älterer Lit.
H. Wrede, Consecratio in formam deorum (1981), 213 Anm. 4 (mit neuer Lit.).