Für Demosthenes (384-322 v.Chr.) waren sein Name und seine Lebensgeschichte schicksalhaft; in der Zusammensetzung ΔΕΜΟΣ „Volk“ und ΣΘΕΝΟΣ „Kraft“ bedeutet Demosthenes „einer, der Kraft (und damit Einfluß) beim Volke besitzt“. Demosthenes' Lebensweg wurde von seinen Kindheitserfahrungen beeinflußt. Bereits 377 v.Chr. starb sein gleichnamiger Vater, ein reicher Waffenfabrikant, und die zu Vormündern bestellten Verwandten veruntreuten das Erbe. Seine Mutter Kleobule stand mit ihren zwei kleinen Kindern nahezu mittellos da, und dem jungen Demosthenes schien eine teure, seinem Stand gemäße Ausbildung verwehrt. Nach attischem Recht war ihm erst mit 23 Jahren erlaubt, auf gerichtlichem Wege von den Vormündern Schadenersatz zu fordern. Einen für diesen Rechtsstreit erforderlichen redegewandten Anwalt konnte er sich nicht leisten. Demosthenes war, anders als es sein späterer Nachruhm glauben macht, alles andere als rednerisch begabt. Auch war seine Konstitution so schwächlich, seine Stimme und sein Artikulationsvermögen so unterentwickelt, daß er diese Defizite nur durch ein ausgeklügeltes Übungsprogramm ausgleichen konnte. Der Unterricht bei Rhetoriklehrern und das gewerbliche Abfassen von Anklage- bzw. Verteidigungsreden als Logograph (Redenschreiber) für andere brachten ihm die Routine, die er brauchte, um seine Interessen selbst zu vertreten. Mit dem Gewinn seiner Erbschaftsprozesse erreichte er sein bisheriges Lebensziel. Er wandte sich nun der Politik als neuem Betätigungsfeld zu: Nach wechselvollen Jahren erkannte er seine eigentliche Hauptaufgabe darin, Athen zur alten Großmachtstellung zurückzuführen, gegen den immer mächtiger werdenden Makedonenkönig Philipp II. Im Laufe dieser Auseinandersetzung erwuchs ihm in dem makedonischen Parteigänger Aischines ein politisch und rhetorisch ebenbürtiger Gegner. Demosthenes besiegte ihn endgültig im sog. Kranzprozeß (330 v.Chr.), doch sein Traum eines wiedererstarkten Athens erfüllte sich nicht. Nach der völligen Niederlage Athens im Lamischen Krieg (323 - 322 v.Chr.) verlangten die Sieger seine Auslieferung, der er sich durch die Flucht in den Poseidontempel auf der Insel Kalauria entzog, wo ihm als letzter Ausweg nur der Selbstmord (322 v.Chr.) blieb. Erst 42 Jahre nach seinem Tode wurde ihm auf Antrag seines Neffen Demochares auf der Athener Agora eine bronzene Ehrenstatue errichtet, die der Bildhauer Polyeuktos anfertigte. (Ps. Plutarch, Leben der 10 Redner 847 a-d; Plutarch, Demosthenes 30,5; Pausanias 1, 8, 2.)
Eine 13 cm hohe Bronzebüste aus der sog. Pisonenvilla in Herculaneum, die auf der Brust den Namen Demosthenes trägt, ermöglichte eine Identifizierung der literarisch überlieferten Porträtstatue mit dem Statuentypus, der durch Repliken in Rom (Abguß Th.31), Kopenhagen (Abguß Th.32), Brüssel (Abguß Th.24) und weit über 50 Kopfrepliken bekannt ist.
Die Rekonstruktion der originalen Statue ist nur hinsichtlich der Handhaltung unsicher. Aus folgenden Gründen sind ineinander gelegte Hände anzunehmen: Plutarch, Demosthenes 31,1 berichtet, einstmals habe ein Soldat in den zusammengefalteten Händen des bronzenen Demosthenesbildes sein Geld verborgen. Auch die Komposition der Figur - Arme, Hände und Kopf bilden ein Sechseck - spricht für gefaltete Hände. 1901 wurden im Garten des Palazzo Barberini in Rom ein Paar ineinander gelegter Hände aus Marmor ausgegraben, die einer verlorenen Demosthenesstatue zugewiesen wurden. 1920/24 tauchte im Kunsthandel eine 23 cm hohe Statuette auf, die ebenfalls gefaltete Hände überliefert.
Die drei Repliken der Demosthenesstatue unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ausarbeitung deutlich voneinander. Der Brüsseler Torso (Abguß Th. 24), eine Kopie des späten Hellenismus, kommt durch seine veristischen Züge der Formensprache des 3. Jh. am nächsten. Charakteristisch sind die Altersmerkmale wie die Falten in der rechten Ellenbeuge, unter der rechten Achsel und auf der Brustmitte. Anstelle der sonst üblichen Glättung der Körperpartien findet man hier am Oberkörper und an den Armen Raspelspuren; durch diese unebene Oberfläche wird die faltige Haut des Mannes nahezu greifbar. Das Brüsseler Stück ist auch in der Wiedergabe des Verhältnisses von Körper und Gewand äußerst qualitätvoll, da das rechte Spielbein sich klar unter dem Himation abzeichnet. Ebenso sind die Quer- und Zugfalten des Mantels so gearbeitet, daß sie durchaus natürlich wirken. Ganz anders verhält es sich mit der Statue im Vatikan (Abguß Th.31), die in spätaugusteischer Zeit entstanden sein dürfte, was u.a. die Schönlinigkeit der Gewandfalten belegt. Die Zeichen des Alters, sowohl im Gesicht als auch auf der Brust und an den Armen sind gemildert. Körper und Himation sind zueinander ohne Bezug, da auch der Bauch nicht zu erkennen ist. Der Kopf ist sehr kantig und geschönt (vgl. den Kopf Abguß Inv. 290), so verdeckt z. B. das Kalottenhaar den Glatzenansatz, und die Falten sind geglättet. Die dritte Kopie (Abguß Th. 32), die am Ende des 1. Jh.n.Chr. geschaffen sein dürfte, zeigt sich in der Gewand- und Bauchbildung dem Brüsseler Stück verwandt. Doch sind die Körper- und Gesichtsflächen derart weich modelliert, daß die Altersmerkmale (hoher Haaransatz, kaum knochiges Inkarnat) rein formelhaft wirken.
Bei der Interpretation der Demosthenesstatue neigte man früher zu einer psychologisierenden Deutung und schrieb den Runzeln und kontrahierten Brauen bestimmte Affekte zu. Demosthenes brüte über seinen Plänen, und sein Groll bringe das leblose Gesicht fast zum Sprechen; die Brauenkontraktion und die verschränkten Händen signalisiere Trauer. Heute sieht man sowohl den Gesichtsausdruck als auch die Körperhaltung der Figur in einer ikonographischen Tradition. Alterszüge finden sich bereits in der Spätklassik bei den Darstellungen älterer Männer. Der frühe Hellenismus zeigte eine besondere Vorliebe für eine differenzierte Wiedergabe körperlicher Merkmale, wie Stirnfurchen, gerunzelten Brauen, scharfen Mund- und Nasenzügen, welker Haut der Brust und magerer Arme. Bei der Darstellung eines Redners werden die zusammengezogenen Brauen und der düstere Blick als Zeichen für Konzentration und Denkanstrengung zu verstehen sein. Die Körperhaltung und die nicht auf Eleganz bedachte schlichte Drapierung des Himation verstärken diesen Eindruck. Verschränkte Hände kommen bereits früher bei Figuren auf Grabreliefs vor. Während sie dort die stille Anteilnahme der Hinterbliebenen unterstreichen, wirken sie beim Demosthenes, der nur auf sich bezogen ist, leicht verkrampft. Der feste Stand, die gefalteten Hände und der Verzicht auf „Blickkontakt“ zum Betrachter grenzen die Figur von ihrer Umgebung ab.
In Haltung und Mimik wird somit das Bild eines engagierten Intellektuellen vorgeführt, der sich für seine Polis einsetzt.
L. Alscher, Griechische Plastik IV (1957) 15ff. Abb. 1,66 Taf. I A;
Helbig4 I (1963) 340. 431;
G.M.A. Richter, The Portraits of the Greeks II (1965) 215ff.
B.Fehr, Bewegungsweisen und Verhaltensideale (1979) 18. 47. 57f. 108. 132 Abb. 14-6;
H. Jucker-D. Willers (Hrsg.), Gesichter. Griechische und römische Bildnisse aus Schweizer Besitz (1982) 41 Nr. 12;
L. Giuliani, Bildnis und Botschaft (1986) 134. 139f. 158. 167 Anm. 20 Abb. 26-7;
U. Schindel (Hrsg.), Demosthenes (1987) (mit weiterer Lit. und Aufsatzsammlung zu Demosthenes);
K. Fittschen (Hrsg.), Das griechische Porträt (1988) 26f. 78ff. 141ff. 393ff. (mit Lit.) Taf. 108-16.