Das Freundespaar Harmodios und Aristogeiton aus Athen verübte bei der Feier der Panathenäen des Jahres 514 v. Chr. ein Attentat auf Hipparchos, den Bruder des Hippias. Sie kamen dabei selbst zu Tode. Das primär persönliche Tatmotiv wurde in der Folgezeit - besonders seit
Beseitigung der Tyrannis wenige Jahre darauf - in den Hintergrund gedrängt zugunsten ihrer ideellen Oberhöhung als Gründerheroen der neuen Polisverfassung, der erst durch ihren unbedingten Freiheitswillen der Weg geebnet worden sei. Ihr Andenken lebte in der Gelagedichtung der Zeit fort und wurde bald in einer von Antenor geschaffenen Bronzegruppe auf der Agora monumentalisiert. Die Thematik des Denkmals war brisant genug, so daß die Perser, als sie 480/479 Athen in ihre Gewalt bekamen, die Gruppe als Trophäe raubten.
Nach der endgültigen Vertreibung der Perser aus Griechenland wurde rasch für Ersatz gesorgt: 477/476 stellten die Athener erneut Statuen der Tyrannenmörder auf dem Markt auf, gearbeitet von den Bildhauern Kritios und Nesiotes. Auf diese Gruppe lassen sich sämtliche bislang bekannt gewordenen Marmorwiederholungen der Kaiserzeit zurückführen.
Die hochberühmte Zweifigurengruppe wird am besten dokumentiert durch eine heute in Neapel befindliche Marmorkopie (Inv. 572/573), welche im Zustand moderner Ergänzungen die beiden Männer zeigt, wie sie in energischem Ausfallschritt auf den nicht dargestellten Gegner zustürmen. Die Ovalplinthen, deren eine noch die originale Profilierung bewahrt hat, sind ebenso wie die der Standfestigkeit halber angebrachten Baumstammstütze Zutaten des römischen Kopisten, die das Bronzeoriginal nicht nötig hatte. Hier nicht zugehörig ist - neben den zum Teil irreführenden neuzeitlichen Ergänzungen - der bärtige Kopf des Älteren (Aristogeiton), der vielmehr Bruch an Bruch anpaßt an an eine in Rom am Fuß des kapitolinischen Hügels gefundene Torsoplastik, die hier nebenan zu sehen ist (Inv. 498). Sie bietet in ihrem mit Ausnahme von Teilen des linken Knies und Oberschenkels unergänzten Zustand ein wertvolles Korrektiv zur Überlieferung dieser Figur; ihr ist in dem deutlicher vom Körper abgespreizten linken Arm der Vorzug zu geben. Die kraftvoll-straffe Durchbildung der Körperreliefs mit den stärker herausgetriebenen Einzelformen, den bronzemäßig abgesetzten Brustwarzen und der hervortretenden Bauchader unterscheidet die kapitolinische Replik von der in Neapel.
Die von neuzeitlichen Ergänzungen empfindlicher berührte Überlieferung des Jüngeren (Harmodios) ist an den Vasendarstellungen der Gruppe zu messen, die einen weit über den Kopf nach hinten ausholenden Schwertarm zeigen.
Lange in der Forschung umstritten war die exakte Anordnung der Figuren auf der einstigen Basis und ihre Stellung zueinander. Die Frage der Gruppenbildung läßt sich nach Maßgabe der erhaltenen großplastischen Repliken allein nicht entscheiden; die Basislösung der Neapolitaner Wiederholung zeigt vielmehr an, daß im eher dekorativen Ambiente kaiserzeitlicher Aufstellungen auch mit einer Vereinzelung der ursprünglich auf einer gemeinsamen Basis stehenden Figuren zu rechnen ist. Doch erlauben die Reflexe, die das berühmte Denkmal in der Kleinkunst auf Vasen und Münzen zitieren, seit dem ausgehenden 5. Jh. eine Antwort, wenn man sie nur allesamt
mit ihren Abweichungen voneinander als nachvollziehbare Umsetzungen eines dreidimensionalen Werkes in der Flächenkunst begreifen will. Danach müssen die beiden auf gleicher Höhe, Rücken an Rücken nach vorne auf den Gegner zugestürmt sein. Ihre Blicke und der waagerecht vorstoßende Arm des Älteren (Aristogeiton) gelten dem Ziel ihres Anschlags; Aristogeiton hält sein Schwert mit der an der Körperflanke herab zurückgenommenen Rechten in Reserve, in der vorgestreckten Linken die Schwertscheide. Spiegelbildlich angelegt ist das kühn ausschreitende, federnde Schrittmotiv des Jüngeren, der nun - aus der ihm vom Freunde gebotenen Deckung heraus - seine ganze Energie in den Schwerthieb legt, mit dem angewinkelt erhobenen rechten Arm weit über den Kopf nach hinten ausholend. Ihre athletische Nacktheit, diesen für Teilnehmer an einem städtischen Fest gewiß „unrealistischen“ Aufzug teilen sie mit vielen Kriegern der Klassik, die unter Verzicht auf Angabe ihrer Rüstung in der Leistungsfähigkeit und Schönheit ihres Körpers gezeigt werden sollen. Der Leib ist Träger ihrer Areté, Gewand oder Panzerung hingegen von untergeordneter Bedeutung für den zu rühmenden Wert des Dargestellten.
Anstelle der oftmals kompliziert arrangierten Haartrachten der Archaik tragen Harmodios und Aristogeiton betont einfache Frisuren. Auch die künstlerische Formensprache entwickelt sich im frühen 5. Jh. vom manieristisch überfeinerten, vielgliedrig aufgelösten Stil der vorangegangenen Jahrzehnte zu einer jetzt einheitlicher gebundenen Schlichtheit, deren schwerblütiger Ausdruck vom gewandelten Menschenbild der Perserkriegszeit geprägt ist:: die kompakte Plastizität des kubisch angelegten Hauptes, der leuchtende Blick des von dicken Lidern eingefaßten Auges und das lastende Kinn (Harmodios) weisen auf den Strengen Stil; auch der noch sachte wie zu einem Lächeln bewegte Mund, nunmehr wie atmend einen Spalt weit öffnet sich: Zeichen einer neuen vibrierenden Lebendigkeit und Energie, die von der ganzen Figur Besitz ergreift.
Die Gruppe war ihrer Funktion nach ein Novum, ließen sich ihre Figuren doch weder als Weihegaben für eine Gottheit noch als Grabstatuen greifen, auch Kultbilder waren sie nicht: soweit wir sehen, ist hier erstmalig die feste Einbindung archaischer Skulptur in einen sakral-religiösen Kontext aufgesprengt, tritt das Bild vom Menschen säkularisiert als Denkmal im eigentli-
chen Sinn des Wortes hervor und verkörpert am Ort der politischen Entscheidungsfindung Geist und Identität der Polis Athen. Der persönliche Einsatz des Bürgers für die Freiheit, der bedingungslose Widerstand gegen den leisesten Verdacht tyrannischer Bestrebungen sind Werte, die, in der politischen Diskussion des 5. Jh. stets präsent, von den Tyrannenmördern exempla- risch verkörpert werden. Gerade auch durch die Ausblendung des Gegners erfährt die Darstellung eine allgemeine, über die historische Einmaligkeit des Vorganges von 514 hinausweisende Bedeutung und wird zum Sinnbild einer ethisch-politischen Haltung, welche Fundament und geistige Mitte der kleisthenischen Ordnung bildet.
Lange Zeit sollten Harmodios und Aristogeiton für sich unter den Monumenten der Agora bleiben: das ganze 5. Jh. hindurch sind sie die einzigen Statuen für Sterbliche überhaupt und später noch, als hier verdienten Feldherren und Politikern Ehrenstatuen gesetzt wurden, hatten diese per Gesetz gebührenden Abstand von diesem Symbol der politischen Freiheit Athens zu wahren.
St. Brunnsaker, The Tyrant-slayers of Kritios and Nesiotes 2 (1971);
B. Fehr, Die Tyrannentöter (1984)