Die Statue wurde 1792 in Gabii gefunden. Sie gelangte daraufhin in die Sammlung Borghese in Rom und mit dieser in den Louvre.
Ihre Höhe beträgt 1,60 m. Ergänzt sind an der Marmorstatue die Nase, ein Stück des linken Ohrs, die rechte Hand mit dem Handgelenk sowie die Fibel, der linke Ellenbogen, die linke Hand wie das von ihr gehaltene Mantelstück, der rechte Fuß, das rechte Bein bis zum Knie und der linke Fuß. Zudem ist die Skulptur geputzt und stark übergangen. Nicht unwesentlich wird der heutige Eindruck, den die Statue beim Betrachter hinterläßt, von der preziösen und grazilen Haltung der rechten Hand geprägt. Diese ergänzt die Statue ganz im Sinne des späten 18. Jh.
Die Statue im Louvre ist die am vollständigsten erhaltene Kopie eines sonst nur in wenigen weiteren Replikenfragmenten überlieferten Standbildes.
Sie stellt eine schmale, mädchenhafte Gestalt dar, die Jagdkleidung trägt: einen an den Schultern geknüpften, zweifach gerafften, nur knielangen Ärmelchiton sowie einen Mantel. Das Jagdgewand ist in der Antike nur bestimmten weiblichen Figuren des Mythos, nämlich Artemis und den Amazonen, vorbehalten. Die mädchenhafte Bildung der Dargestellten, die bei einem Vergleich mit den berühmten Amazonenstatuen des 5. Jh.v.Chr. offensichtlich wird und auch die gewisse Schicklichkeitsgrenzen nicht überschreitende Gewanddrapierung - zumindest jeweils eine Brust der zuvor genannten Amazonen ist entblößt - läßt die Benennung unserer Statue als Artemis sicher erscheinen, obwohl weitere für die Göttin typische Attribute fehlen. In der Spannung zwischen der betonten Jugendlichkeit der mädchenhaften Gestalt und ihrem Auftreten als „amazonenhafte“ Jägerin wird eine gewisse Ambivalenz der Aussage dieses Götterbildes deutlich. Hierbei ist jedoch dem mädchenhaften Charakter der Göttin der Vorrang eingeräumt. Die Göttin wird beim Ab- bzw. Anlegen ihres Mantels gezeigt. Das Haltungsmotiv ist kompliziert. Während der erhobene und angewinkelte rechte Arm nach der Mantelschließe über der rechten Schulter greift, hält der linke, vor dem Körper angewinkelte Arm einen der Mantelzipfel vor die Brust. Der Bewegung der Rechten folgt die Wendung des Kopfes. Das ruhige, kontrapostische Standmotiv tritt zur komplizierten Bewegung der Arme und des Kopfes nicht in Konkurrenz.
Während die rechte Körperhälfte durch den Chitonsaum, den Überfall und die unterhalb der Brüste verlaufende Gürtung betont horizontal gegliedert ist, bildet der herabfallende Mantelsaum eine ausgleichende Vertikale. Die Haltung des linken Arms sowie der vor der linken Körperhälfte herabfallende Mantel schließen diese Körperseite ab und versperren so die linke Seitenansicht der Figur dem Blick des vor der Statue stehenden Betrachters. An der rechten Körperseite staffeln sich die Chitonfalten in den Raum und erschließen die Nebenseite. Sowohl die Geste des rechten Arms wie auch die Wendung des Kopfes bestätigen die Deutung der rechten als der „offenen“ Körperseite. Das der Hochklassik entlehnte Standmotiv stellt sich diesem Spiel zwischen „offener“ und „geschlossener“ Körperseite entgegen. Die sich gegen den Kontur staffelnden Falten des Chitons werden ähnlich wie an der gegen 370 v.Chr. entstandenen Eirene (Abguß Inv. 439 und 579) durch den Mantel „aufgefangen“ und die gesamte Figur in ähnlicher Weise „hinterfangen“. Die Seitenansichten der Figur zeigen eine relativ große Eigenständigkeit im Sinne der Hoch- und frühen Spätklassik; die Proportionierung ist noch nicht die der wohl nach 340 v.Chr. entstandenen Herkulanerinnen (Abguß Inv. 361 und 495). Der Kopf läßt sich vor allem mit dem Praxiteles zugeschriebenen Schöpfungen, etwa der Artemis Dresden (Abguß Inv. 496), der Knidischen Aphrodite (Abguß Inv. Th 160) oder auch der Aphrodite von Arles (Abguß Inv. 458) verbinden. Eine Datierung des Urbildes der Statue um die Mitte des 4. Jh.v.Chr. ist damit recht sicher.
Daß es sich bei diesem Urbild um die in den vierziger Jahren des 4. Jh. entstandene Artemis Brauronia des Praxiteles handelt, wie vielfach behauptet wurde und wird, ist jedoch nicht nachzuweisen. In der Forschung wurde früher allgemein angenommen, daß das hier dargestellte Motiv des Gewandanlegens mit diesem Götterbild zu verbinden sei. Wie aus Inschriften hervorgeht, die sowohl im an der Ostküste Attikas gelegenen Brauron wie im Filialheiligtum auf der Akropolis in Athen gefunden wurden, weihten nämlich Frauen der Brauronia Kleider. Nach älterer Forschungsmeinung ist die mit der Brauronia zu identifizierende Artemis von Gabii beim Anlegen eines der ihr geweihten Gewänder dargestellt.
Eine weitere Besonderheit der Figur ist das ihre Schönheit hervorhebende Motiv des heruntergleitenden Gewandes, das man bereits an der im späten 5. Jh. entstandenen Aphrodite Fréjus (Abguß Inv. 517) und an der Artemis auf dem Ostfries des Parthenon findet.
Besonders auffällig bleibt aber, daß diese hinsichtlich ihres Aufbaus und Haltungsmotivs sehr ausgefeilte Darstellung der Göttin in einer eher nebensächlichen Handlung abbildet, nämlich dem Nesteln am Gewand. Dieses, in der Beiläufigkeit der Handlung sich äußernde Hingegebensein an sich selbst und das eigene Tun, ist ein weiterer Zug, der die Artemis von Gabii mit anderen Götterbildern des 4. Jh., etwa mit dem Apollon Sauroktonos (Abguß Inv. 456) verbindet.
Die ergänzte und übergangene Kopie im Louvre ist wohl in hadrianischer Zeit entstanden. Das Haar mit seinen langen, relativ ungegliederten Strähnen, die durch recht undefinierte, durchlaufende und absatzlose Bohrkanäle voneinander geschieden sind, sowie das im Gegensatz zum flachen Unterlid weit hervorspringende, „metallische“ Oberlid finden ihre nächsten Parallelen an Porträts der Sabina, der Frau des Kaisers Hadrian (Regierungszeit 117-138 n. Chr.).
Das Bild der Artemis von Gabii zeigt die jugendliche Göttin in einer beiläufigen Handlung begriffen. Die Anmut der Bewegung und die mädchenhafte Bildung des Körpers sind insbesondere hervorgehoben. Das Erkennen der Göttin selbst, die ohne Attribut vor uns steht, ist ins Assoziative verlagert.
BrBr 59; S. E. Rizzo, Prassitele (1932) Taf. 59ff.;
H. K. Süsserott, Griechische Plastik des 4. Jahrhunderts v. Chr. (1938) 184-185, Taf. 37,1;
M. Bieber, Ancient Copies (1977) 73, Abb. 269-271 (mit Literaturliste);
LIMC II 1 (1984) 640f., Nr. 190, s. v. Artemis (Kahil); II 2 (1984) Taf. 460, Abb. 190; II 1 (1984) 801f., Nr. 16 s. v. Artemis/Diana (Simon);
H. Meyer, Der weiße und der rote Marsyas (1987) 26, Anm. 90 (mit weiterer Literatur).