Die Göttin Artemis ist in der Ilias Homers die Tochter des Zeus und der Leto sowie die Schwester des Apollon. Ihr Wesen ist zunächst das einer Potnia Theron, einer Herrin der Tiere. Darstellungen, die diesen Wesenszug der Göttin schildern, zeigen eine Gestalt, welche als Zeichen ihrer Macht wilde Tiere mit den Händen greift. Sodann kann sie als bogenbewehrte oder auch fackeltragende Göttin entweder im langen Gewand oder in kurzer Jagdkleidung auftreten. Durch Kleidung und Attribute ist sie in den letztgenannten Fällen als Jägerin, jungfräuliche Geburtshelferin und Kurotrophos, als tötende bzw. lebengebende Muttergöttin oder als Rächerin, insbesondere ihrer Mutter Leto, charakterisiert. Sie tötet Frevler, wie Aktaion, Otos, Ephialtes, Niobe und kämpft gegen die Giganten.
Das Bild der Artemis ist, wie hier nur angedeutet werden kann, sehr vielgestaltig. Seit dem 4. Jh.v.Chr. setzt sich in der darstellenden Kunst das Bild der mädchenhaften Jägerin zunehmend durch.
Die mit Kopf erhaltene Dresdener Statue (Abguß Inv. 496) wurde in Rom angekauft. Sie mißt 1,51 m in der Höhe. Am Hals und am rechten Unterarm ist sie gebrochen. Die Finger der rechten Hand, die Spitze des Köchers und Teile des Bogens fehlen; die Nase, der Oberkörper sowie die Plinthe sind bestoßen. Vor allem an den bestoßenen Stellen ist die Marmoroberfläche vernarbt, so daß eine neuzeitliche Reinigung und Überarbeitung des Stücks angenommen werden muß.
Die Kasseler Statue (Abguß Inv. 416) stammt wohl ebenfalls aus Rom. Ihre Höhe bestägt 1,16 m. Sie ist weniger vollständig erhalten als das Dresdener Exemplar: Der Kopf, der Hals, die Arme sowie Teile der Schulter- und Rückenpartie fehlen. Viele Gewandfalten waren ausgebrochen, die Brüche selbst sind neuzeitlich zum Zweck der Ergänzung abgearbeitet. Die modernen Ergänzungen sind heute jedoch wieder entfernt. An der rechten Brust bemerkt man eine Fehlstelle, die schon in der Antike zum Ansetzen eines Marmorstücks geglättet wurde.
Die Statue in Dresden ist die am vollständigsten erhaltene Kopie des hier besprochenen Artemisbildes und zudem das namengebende Stück. Sie überliefert als einzige von 28 Kopien und Varianten des Typus die ursprüngliche Haltung des rechten Armes und den zugehörigen Kopftypus. Durch die Vielzahl der feststellbaren Einzelheiten wird die Dresdener Kopie zur getreuesten Überlieferung.
Diese Kopie überliefert das Bild einer nicht erwachsenen und deshalb nurmehr „unterlebensgroßen“, mädchenhaften Gestalt. Sie ist in einen offenen Peplos ohne Gürtung mit über die Hüften reichendem Überschlag, das typische Gewand junger Mädchen, gekleidet. In der herabhängenden Linken hält sie den Bogen, während die erhobene Rechte zum Köcher greift. Beide Attribute kennzeichnen die Figur als Artemis. Die Schmalheit der Gestalt und des Gesichts sowie die Einfachheit der Frisur betonen den mädchenhaft-jungfräulichen Charakter der Göttin Artemis, der seit Euripides' 428 v.Chr. erstmals aufgeführter Tragödie „Hippolytos“ in Dichtung und bildender Kunst immer mehr in den Vordergrund trat.
Das Urbild der „Artemis Dresden“ dürfte in den Jahren um 360 v.Chr. entstanden sein. Das legt ein Vergleich mit der gegen 370 v.Chr. entstandenen Eirene des Kephisodot (Abguß Inv. 439 und 579) - deren vollständigste Überlieferung befindet sich in der Münchner Glyptothek - und mit den weiblichen Figuren eines attischen Urkundenreliefs von 362/61 v.Chr. nahe. Zur Absicherung der Datierung kann weiterhin ein nach neuesten Erkenntnissen wohl noch vor der Mitte des 4. Jh. entstandenes Weihrelief aus Larissa im Nationalmuseum von Athen herangezogen werden, auf dem der Typus in wesentlichen Zügen, jedoch spiegelbildlich wiederholt wird. Dieses Relief setzt mithin das Urbild der Artemis Dresden voraus.
Sowohl die Dresdener wie auch die Kasseler Kopie stammen aus dem 2. Jh.n.Chr. Trotz der im Detail äußerst differenzierten Ausarbeitung zeigt die Dresdener Kopie eine „flache“, relativ nachlässig gearbeitete Rückseite. Besonders der Kopf verrät ihre Entstehungszeit. Die Haarsträhnen liegen sämtlich in einer Ebene. Sie überlagern sich nicht, sondern sind durch lange, kontinuierlich verlaufende Bohrkanäle voneinander getrennt. Statt einer Haarschichtung wird eine Unterteilung in Strähne und dunklen Zwischenraum vorgenommen. Die einzelnen Strähnen sind kaum ziseliert. Ähnlich unscharf wie die Strähnen sind die Augenlider ausgearbeitet. Alle Einzelheiten der Ausarbeitung sprechen für eine Datierung der Kopie in antoninische Zeit.
Die im Detail schärfere Ausarbeitung der Kasseler Replik sowie ihr „bronzemäßiger Stil“ deuten auf eine hadrianische Entstehung. Das Bemühen um scharfe, bronzeähnliche Formen zeigt sich insbesondere an dem eingetieften Band über dem Saum des Apoptygma. Übereinstimmend mit der Dresdener Kopie besitzt sie eine flach angelegte Rückseite, die hier regelrecht vernachlässigt wirkt.
Die Münchener Glyptothek besitzt den Torso einer Variante der Artemis Dresden (Gl. 227). Dieser unterscheidet sich von der, das Urbild wohl am besten überliefernden Kopie in Dresden durch den herabhängenden rechten Arm, den nach rechts, zur Spielbeinseite gedrehten Kopf, die Angabe eines Ärmelchitons und die auf die Schulter fallenden Haarlocken. Vor allem die herabfallenden Locken machen die Deutung dieser Variante als Porträtstatue der frühen Kaiserzeit wahrscheinlich.
Die Artemis Dresden führt dem Betrachter das Bild einer mädchenhaften Göttin vor Augen, das durch Gestalt, Handlung, Attribute und Kleidung keine eindeutige Bestimmung ihres Wesens als Jägerin oder Rächerin zuläßt, sondern eher „Erinnerungen“ an mythische Züge der Artemis versammelt.
B. Vierneisel-Schlörb, Klassische Skulpturen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. (1979) 293ff., Nr. 28 (hier ältere Literatur);
D. Candilio in: A. Giuliano, Museo Nazionale Romano, Le Sculture I 7,2 (1984) 365f.;
LIMC II 1 (1984) 637d) , Nr. 137-138, s. v. Artemis (Kahil); II 2 (1984), Taf. 455, Abb. 137, 142; II 1 (1984) 799f., Nr. 9a-l, s. v. Artemis/Diana (Simon); II 2 (1984) Taf. 588, Abb. 9c.