Die spätklassische Statue der Knidischen Aphrodite ist in unserer Sammlung durch einen Abguß der Kopie im Vatikan vertreten. Diese ist ein Werk des 2. Jh.n.Chr. und gilt als die beste der über fünfzig erhaltenen Repliken. Ergänzt sind unter anderem der linke Arm, dessen Haltung jedoch durch den Ansatz am Gewand gesichert ist, und der rechte Unterarm mit der Hand, die man sich am Original stärker erhoben vorstellen muß. Sie wurde im 19. Jh. so ergänzt, um ein Metallgewand zu halten, das bis 1932 den Unterkörper der Statue verdeckte und so dem Schicklichkeitsempfinden dieser Zeit Genüge tat. Der Kopf stammt von einer weiteren, etwas kleineren Wiederholung derselben Statue.
Dargestellt ist eine Frau, die sich gerade entkleidet hat und mit der Linken ihr Gewand auf eine große, reliefverzierte Hydria gleiten läßt. Die Statue ist kontrapostisch aufgebaut: dem rechten Standbein entspricht die Hebung der linken Schulter, der Kopf ist dementsprechend zur Spielbeinseite gewendet. Den Oberkörper vornübergeneigt, hält die Frau mit der linken Hand das Gewand und führt die Rechte zur Scham. Ihre am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten zusammengefaßten Haare werden von einem zweimal um den Oberkopf geschlungenen Band gehalten. Der Nacktheit wegen kann es sich bei der Frau nur um Aphrodite handeln.
Aphrodite ist dargestellt, wie sie sich zum Bade entkleidet. Darauf weist die Hydria hin, denn diese Vasenform wurde unter anderem zum Schöpfen des Badewassers verwendet. Abbildungen der Statue auf knidischen Münzen des 3. Jh.n.Chr. belegen, daß die Hydria nicht Zutat eines römischen Kopisten ist, sondern zur Originalkomposition gehörte. Die Göttin wird also wie eine sterbliche Frau bei einer ganz alltäglichen Beschäftigung gezeigt.
Durch den stilistischen Vergleich des Kopfes mit Figuren auf Grabreliefs läßt sich die Entstehungszeit des Originals auf die Jahre um 340 v. Chr. eingrenzen. Die Figur stellt somit das früheste uns bekannte großplastische Bild einer völlig nackten Aphrodite dar. Zwar betonen schon Darstellungen des 5. Jh.v.Chr., wie die Aphrodite aus dem Ostgiebel des Parthenon oder die Aphrodite Fréjus (Abguß Inv. 517), die weiblichen Reize der Göttin durch dünne Gewänder, die die Körperformen durchschimmern lassen oder gar eine Schulter entblößen. Aber erst um die Mitte des 4. Jh.v.Chr. treten die Aphrodite von Arles (Abguß Inv. 450) und die Aphrodite von Capua mit freiem Oberkörper auf. Aus den antiken Schriftquellen wissen wir, daß die nackte Knidia in der Nachfolge solcher Werke großes Aufsehen erregte.
Mit Hilfe der Quellen und der oben erwähnten Münzen gelang es gegen Ende des 18. Jh., unsere bislang unter dem Namen „Venus Colonna“ bekannte Statue als eine Kopie der Aphrodite von Knidos zu identifizieren. Diese ist in der antiken Literatur als Werk des Bildhauers Praxiteles überliefert, der um die Mitte des 4. Jh.v.Chr. tätig und für seine erotisch wirkenden Frauen- und Jünglingsstatuen bekannt war. So berichtet eine Anekdote, daß die Einwohner von Kos bei Praxiteles ein Kultbild der Aphrodite in Auftrag gaben. Der Künstler lieferte ihnen die nackte Statue, welche die Koer entrüstet ablehnten. Sie erhielten daraufhin eine andere Version, während die unbekleidete Aphrodite von den Einwohnern von Knidos gekauft wurde (Plinius, NH 36, 20f.). Im dortigen Heiligtum avancierte die Statue zu einer Publikumsattraktion (Pseudo-Lukian, Erotes 12-17; Plinius, NH 36,20).
Daher wurde das Kunstwerk in späthellenistischer Zeit in einem eigenen Schrein effektvoll in Szene gesetzt. Dem durch den Haupteingang eintretenden Besucher erschloß sich zunächst nur die Vorderansicht; auf Verlangen öffnete eine Kustodin jedoch auch eine Hintertür, durch die man den delikaten Rückenakt bewundern konnte. Zudem erzählte die Wärterin eine deftige Anekdote, derzufolge ein allzu begeisterter Besucher eine Nacht im Schrein der Aphrodite verbrachte und auf ihrem Schenkel einen dunklen Fleck hinterließ (Pseudo-Lukian, Erotes 15; Lukian, Eikones 4). Die Quelle läßt uns erahnen, welch erotische Wirkung die Statue auf den antiken Betrachter ausgeübt haben muß.
Zweifellos jedoch war eine solche Vorführung ihrer Rückseite vom spätklassischen Künstler nicht beabsichtigt worden. Eine formanalytische Untersuchung zeigt vielmehr, daß optische Mittel die Wirkung der Statue auf ihre Vorderansicht konzentrieren: die durch Gewand und Hydria gebildete Senkrechte sucht wie eine Schranke den Betrachter am Umschreiten der Statue zu hindern; die Armbewegungen und der nach vorn geneigte Oberkörper verweisen ganz auf die Vorderansicht. Diese Eigenheiten hat die Statue mit anderen Bildwerken des 4. Jh.v.Chr. gemeinsam. Die Rückseite der Figur hingegen bezog ihre Berühmtheit erst aus der späthellenistischen Inszenierung des Kunstwerks.
Daß jedoch schon die ursprüngliche Schöpfung den weiblichen Körper als Reizobjekt präsentierte, verdeutlicht ein Vergleich mit zwei etwa gleichzeitigen männlichen Statuen, dem Apoll vom Belvedere (Abguß Inv. 180) und dem Hermes des Praxiteles (Abguß Inv. 619). Deren Stand- bzw. Schreitmotiv ist freier, ihre Oberkörper sind hoch aufgerichtet, die Köpfe erhoben. Sie versuchen nicht, ihre Blöße mit den Händen zu verbergen, sondern führen ihre vollkommenen, nackten Körper als etwas ganz Selbstverständliches vor. Erst aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, wie befangen die Körperhaltung der Knidischen Aphrodite im Grunde ist. Sie zieht ihre Schultern zusammen und bedeckt die Scham mit der Hand. Diese Körpersprache, die die Aufmerksamkeit allerdings erst recht auf ihre weiblichen Reize lenkt, deutet die Schamhaftigkeit (gr. aidos) an, die Frauen in der dargestellten Situation geziemte. Eine selbstbewußte Zurschaustellung ihres nackten Körpers, wie sie bei den männlichen Statuen begegnet, war mit dem Frauenbild dieser Zeit unvereinbar.
Die „erhabene Erscheinung“ und „göttliche Hoheit“, die der Knidischen Aphrodite in der Forschung oftmals nachgesagt wird, bezieht sie erst aus dem Vergleich mit späteren, hellenistischen Aphroditestatuen, an denen die Schamgesten noch stärker hervorgehoben werden. Während diese, etwa die Kapitolinische Aphrodite (Abguß Th 149, im nördlichen Lichthof), ihren Körper wie unter den Blicken des plötzlich bemerkten Beobachters zu bedecken suchen, sind die Bewegungen der Knidischen Aphrodite gelassen, und ihr Blick geht unbeteiligt über den Betrachter hinweg. Dies hat sie mit anderen Götterbildern des 4. Jh.v.Chr. gemeinsam, welche die Götter ohne Rücksicht auf den Betrachter in ihrem eigenen Tun befangen zeigen.
Eine Umbildung des Statuentyps, die man in der Glyptothek besichtigen kann, macht diesen Unterschied zwischen spätklassischem und hellenistischem Götterbild besonders anschaulich. Die „Aphrodite Braschi“ (Glyptothek Inv. 258; Abguß Th. 170, im nördlichen Lichthof) wiederholt im Wesentlichen die Körperhaltung der Knidischen Aphrodite; statt jedoch ihr Gewand ruhig auf der Hydria abzulegen, scheint sie es in einer plötzlichen Bewegung an sich zu reißen, als ob sie sich vor zudringlichen Blicken schützen wollte. Diese Uminterpretation des statuarischen Motivs geht auf den Hellenismus zurück.
A. H. Borbein, JdI 88, 1973, bes. 173ff. 188ff.;
Chr. Blinkenberg, Knidia (1933);
Helbig4 I (1963) Nr.207 (H.v. Steuben);
N. Himmelmann-Wildschütz, MWPr 1957, 11ff.;
Th. Kraus, Die Aphrodite von Knidos (1957).
Zu hellenistischen Aphroditestatuen: W. Neumer-Pfau, Studien zur Ikonographie und gesellschaftlichen Funktion hellenistischer Aphrodite-Statuen (1982).