Die Marmorstele stammt aus dem Kunsthandel; darum sind verlässliche Informationen zu Fundort und Fundkontext für die Forschung unwiederbringlich verloren, ein Verlust, den die Stilanalyse nur unvollkommen wettmachen kann.
Der Reliefstein ist fast in voller Ausdehnung zum Bild gestaltet; seitlich wachsen in konkavem Übergang schmale Randleisten aus dem Reliefgrund hervor, unten bildet den Rahmen eine breitere Standzone. Vom bekrönenden flachen Giebeldreieck sind nur zwei Bruchstücke erhalten.
Der Bildfläche überaus kunstvoll fügt sich die Figur des Sitzenden ein, indem sie, ohne aufdringlich oder massig zu erscheinen, an drei Seiten den Reliefrahmen berührt. Der Mann trägt einen Chiton als Untergewand - angesichts der verriebenen Oberfläche kenntlich zumal an der bauschigen Ärmelöffnung über dem rechten Ellbogen; darüber hat er einen Mantel um die linke Schulter geschlagen, welcher mit engen Faltenkanneluren den Leib fußlang umhüllt. Den Hals leicht vorgebeugt, sitzt er in aufrechter Haltung auf einem prachtvoll gearbeiteten Klappstuhl. Eine Hand lehnt sachte am Stab zu seiner Rechten, während die andere in sinnender Gebärde an den Bart greift.
Der Sitzende ist nicht allein: im verbleibenden Raum vor ihm steht - weitgehend zerstört - eine nackte, erheblich kleinere Gestalt, die sich ihm mit einer vorerst unklaren Geste des Armes zukehrt. Ins Auge fallen die beiden glockenförmigen, oben zwischen den Figuren aufgehängten Gebilde; es sind Schröpfköpfe, die bis weit in die Neuzeit hinein unentbehrliches Utensil einer Arztpraxis blieben. Als Beigaben sind sie zusammen mit anderem chirurgischen Gerät bereits in archaischen Arztgräbern nachgewiesen. Sie sind hier freilich kaum als konkrete Angabe des Ortes aufzufassen, sondern geben nur als Attribute zeichenhaft über das spezifische berufliche Können des Mannes Auskunft. Die kleine Gestalt kann kein Patient sein, sondern nur ein jugendlicher Gehilfe, der dem Arzt beim Zubereiten von Medikamenten und Verbänden zur Hand geht. Er trägt in der gesenkten Linken einen weiteren Schröpfkopf, während nicht mehr zu klären ist, ob bzw. welchen Gegenstand die Rechte hielt. Trotz des beklagenswerten Erhaltungszustandes bleibt aber spürbar, wie sich hier im leisen Reden der Gebärden ein innerer Dialog zwischen Meister und Gehilfen entspinnt.
Das Sitzen des Arztes weist auf Vorrecht und Würde des Alters. In bezeichnender Weise sind die beiden Gestalten voneinander unterschieden. Während aufwendige Grabmale in archaischer Zeit eher Frühverstorbenen gesetzt werden und die jungen Männer dann als Krieger, Jäger und Sportler Tugenden der Tat an den Tag legen, verkörpert der Sitzende die in langen Jahren gereifte Erfahrung und Autorität des Alters; geistige Aktivität und Reflexion scheinen mit der Geste der zum Bart geführten Linken behutsam angedeutet. So erscheint denn auch der Diener entsprechend der für seine Altersstufe gültigen Verhaltensnorm als stehende Gestalt, die sich durch körperliche Aktivität auszeichnet; ihre Nacktheit - schwerlich Zeugnis für einen tatsächlich unbekleidet verrichteten Dienst - folgt dem Idealbild des Jünglings, das im Kurostypus seine verbindliche Formulierung erfuhr.
Nicht angemessen in diesem Bild adeliger Wertvorstellungen wirken lediglich die Berufsinstrumente als Zeichen einer auf Broterwerb gerichteten Tätigkeit, die mit den Beschäftigungen der Muße, wie sie eines freien Mannes für würdig erachtet werden, nicht ohne weiteres vereinbar sind. Die Tätigkeit des Arztes siedelt nach griechischen Maßstäben im Grenzbereich gemeinen „banausischen“ Handwerks und von der Gottheit verliehenem Heiligtum. Die Bewunderung gerade auch der technischen Fertigkeiten verschafft den erfolgreichen Kapazitäten einen weit in die Welt hinaus dringenden Ruf, verantwortlich für die erstaunliche Mobilität, mit der die frühen Ärzte in allen Himmelsrichtungen die bekannte Welt durchziehen: bis an den Hof des Perserkönigs ist ein berühmter Vertreter seiner Kunst eingeladen worden.
So ist der Klappstuhl in erster Linie zwar Gebrauchsgegenstand des häufig auf Wanderschaft Praktizierenden, doch weisen die in Raubtierfüße auslaufenden Beine sowie die Zierscheiben an den Gelenken auf den Wert eines prestigeträchtigen Luxusmöbels, das man sich als Statussymbol aus kostbaren Materialien wie Elfenbein gefertigt denken darf. Ambivalent wirkt auch der nicht zu über- sehende lange Stock des Sitzenden: Wanderstab des Arztes oder ein Attribut des vornehmen älteren Herrn, der sich darauf in Stunden der Muße bei öffentlichem Gespräch zu stützen pflegt.
Der künstlerische Stil weist das Relief in den griechischen Osten des frühen 5. Jahrhunderts. Das fein nuancierte, nur auf den ersten Blick schematisch anmutende Faltenspiel der Kleidung verrät eine Tradition, die mit unscheinbaren Abweichungen vom Grundmuster den Eindruck lebendiger Körperhaftigkeit hervorzurufen weiß. Die reichlich zwei Generationen zuvor auf Samos entstandene „Hera des Cheramyes“ (Inv. 81) ist in den kannelurenartig aufsteigenden Falten, die gleichwohl die Körpervolumina eindringlich modellieren, durchaus verwandt. Das Denkmal galt demnach einem Arzt im östlichen Griechenland, der vielleicht sogar im Gebiet der später von Hippokrates zu Kos begründeten Ärzteschule tätig war, und es geht der Geburt dieses Vaters der wissenschaftlichen Medizin um annähernd eine Generation voraus.
Welche Funktion aber erfüllte das Relief, stand es als fromme und zugleich repräsentativ-anspruchsvolle Weihegabe in einem Heiligtum oder erhob es sich über dem Grabe des Arztes als Erinnerungsmal?
Ikonographische Parallelen fehlen, auch die Stelentypologie hilft nicht weiter: giebelgekrönte Reliefs werden später in Attika für Grabmonumente wie das des Xantippos (Inv. 484) geläufig, finden sich aber zur Zeit unseres Steins bereits als Weihreliefs. Für die Wahl der Bekrönung ausschlaggebend war offenbar nicht zuletzt das Format der Stele selbst: für einen schlanken Pfeiler kam schon aus Gründen stimmiger Proportionierung ein dem Breitformat vorbehaltener Giebel kaum in Frage.
Das Arztrelief - deutlich noch dem Hochformat zugehörig - stellt mit seinem zierlichen, wie entmaterialisierten Giebelaufsatz bereits einen Grenzfall des Möglichen dar. Allerdings spricht das dialogische Gegenüber von Arzt und Gehilfen für ein Grabrelief. Wo in Votivreliefs solche Zweiergruppen erscheinen, ist einer der Partner die Gottheit selbst.
E. Berger, Das Baseler Arztrelief (1971)