Die Statue trägt nach Auskunft einer Inschrift auf der (nicht abgegossenen) Statuenbasis den Namen Aristodikos: AΡΙΣΤΟΔΙΚΟΥ, gr. [Statue] des Aristodikos. Der junge Mann erscheint im sogenannten Kuros-Schema, d.h. nackt, aufrecht und geradeaus nach vorne gerichtet. Das Körpergewicht ist gleichmäßig auf beide Beine verteilt, wobei das linke in einer leichten Schrittstellung voransteht. Die angewinkelten, an den Körperseiten herabhängenden Arme sind angespannt und die Hände kräftig zu Fäusten geschlossen.
Die Statue wird in die Zeit kurz vor 500 v.Chr. datiert. Sie gehört zu den jüngsten Beispielen dieses in der archaischen Kunst so beliebten Typus, der im 7. Jh. wahrscheinlich auf den ägäischen Inseln entstanden ist und vor allem im 6. Jh. beliebt war. Beim Vergleich aller Kurosstatuen untereinander wird deutlich, daß sich während dieses Zeitraumes in ihrer Gestaltung eine Entwicklung vollzieht. Die wichtigsten Tendenzen dieser stilistischen Veränderung zeigt beispielhaft ein Vergleich des Aristodikos mit den knapp hundert Jahre älteren Kuroi in New York (Abguß DL 18) und in Delphi (Kleobis, Abguß Inv. 241).
Betrachtet man die drei Statuen jeweils als Ganzes, so wird deutlich, daß die frühen Figuren sich aus vier separaten Ansichtsseiten, der Vorder-, Rück-, rechten und linken Seitenansicht, zusammensetzen. Sie stoßen mit deutlich wahrnehmbaren Kanten aufeinander und entsprechen den vier Seiten des ursprünglichen Marmorblocks. Der Aristodikos ist dagegen eine gleichmäßig rundplastisch gebildete Figur. Durch seine Körperproportionen, für die die langen schlanken Beine und der verhältnismäßig kleine Kopf charakteristisch sind, durch eine leichte, kaum merkliche Neigung des Oberkörpers nach vorne und die plastische Gestaltung der Körperdetails wirkt der Aristodikos außerdem dynamischer und naturnäher als die älteren Beispiele.
Letzteres zeigt sich auch beim Detailvergleich. Die Körper der frühen Figuren setzen sich aus sehr einfachen Formen zusammen, Körperdetails wie z. B. die Schulterblätter auf dem Rücken oder vorne die Linea Alba mit der Bauchmuskulatur sind durch eingravierte Linien angedeutet. Beim Aristodikos werden diese plastisch durchgebildet, die Muskeln durch Hebungen und Senkungen charakterisiert und voneinander abgesetzt. Man beachte etwa, wie sich auf dem Rücken die Schulterblätter unter dem Spiel der Muskeln abzeichnen oder wie die Hüftpartie gestaltet ist.
Als ein Kennzeichen für die Entwicklungsstufe eines Kuros kann auch das Verhältnis seiner Arme mit den zu Fäusten geballten Händen zum Körper gelten. Bei den frühen Kuroi sind sie weitgehend mit den Körperseiten verbunden. Im Laufe des 6. Jhs. werden sie jedoch mehr und mehr abgelöst, bis sie sich - wie beim Aristodikos - beinahe frei bewegen und nur noch durch einen Steg am Handgelenk mit dem Körper verbunden sind.
Außerdem ist die Gestaltung der Ohren und ihre Position am Kopf ein stilistisches Kriterium. Bei den frühen Statuen werden sie stilisiert und scheibenförmig dargestellt. Sie sind anatomisch betrachtet zu hoch und zu weit hinten am Kopf angebracht. Im Laufe des 6. Jhs. erhalten sie dann ein fortschreitend naturnahes Aussehen. So empfinden wir Form und Position der Ohren des Aristodikos als anatomisch „korrekt“.
Die Statue des Aristodikos ist 1944 in einer antiken Nekropole in der Nähe des modernen Ortes Keratea, südöstlich von Athen gefunden worden, hat also ursprünglich einen Grabbezirk geschmückt. Sie ist von einer Familie der reichen Athener Oberschicht, der Aristokraten, aufgestellt worden, wie nicht nur die kostbare Marmorfigur, sondern auch der Name des jungen Mannes, Aristodikos (aristos, gr. bester, edelster), wahrscheinlich machen. Die Figur dient gleichzeitig dem religiösen Anliegen der Familie, den Verstorbenen zu ehren und sein Andenken zu bewahren. Den Besuchern der Grabanlage bezeugt sie aber auch Wohlstand und Ansehen der Familie.
Aristodikos ist mit 1,96 m leicht überlebensgroß und in einem Statuentypus dargestellt, der gleichermaßen für Götter wie für Sterbliche gültig war und der das archaische Idealbild eines jungen Mannes zeigt. Zu diesem gehört die Nacktheit, die zunächst für allgemeine Werte wie Jugend, Schönheit, erotische und homoerotische Ausstrahlungskraft steht. Außerdem weist die Nacktheit darauf hin, daß der junge Mann, wie alle vornehmen jungen Leute, Zugang zu den Sportstätten, den Gymnasien hatte, in denen Sport unbekleidet betrieben wurde. Sie drückt damit also auch ein gesellschaftliches Prestige aus.
Aristodikos trägt eine Kurzhaarfrisur, wie sie für einen Athleten praktisch ist. Diese wird erst in der 2. Hälfte des 6. Jhs. üblich. An die kunstvoll gestalteten Langhaarfrisuren der meisten älteren Kuroi erinnern dagegen die eingerollten Locken, die die Frisur am Haaransatz einrahmen.
Die Grabstatue verewigt also das Idealbild eines jungen Mannes vom Ende des 6. Jhs. und ist zugleich Ausdruck für die Trauer und Klage, die sich damals (wie heute) erhoben hat, wenn ein Mensch jung verstorben ist, also einen ΑΩΡΟΣ ΘΑΝΑΤΟΣ , gr. Tod zur Un-Zeit, erlitten hat.
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G.M.A Richter, Kouroi 2 (1970) Nr.165.
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J.Floren, Die geometrische und archaische Plastik, HAW VI,7 (1987) 258ff. Taf. 20,5.
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