Zu dieser überlebensgroßen Marmorstatue gehört eine zweite Jünglingsfigur gleicher Gestalt und Größe. Die Gruppe wurde, in Einzelteile zerstreut, 1893/94 im Apollonheiligtum von Delphi im Gebiet des Athener Schatzhauses gefunden. Auf der Oberseite der beiden Basis- bzw. Plinthenblöcke haben sich Reste einer Inschrift erhalten, die sich folgendermaßen ergänzen läßt: „Kleobis und Biton zogen im Joch ihre Mutter 45 Stadien. Der Argiver (Poly)medes hat (sie) gemacht“. Die Inschrift nennt also die Namen der Dargestellten wie auch des Bildhauers, der Aufstellungsanlaß hingegen wird nur angedeutet, er war damals aber bekannt, wie ein von Herodot überlieferter Bericht zeigt.
Kleobis und Biton, zwei aus Argos stammende Brüder, besaßen gewaltige Körperkräfte und hatten bei Kampfspielen schon manchen Preis errungen. Zum Anlaß der Statuenweihung wird folgendes erzählt: „Als man in Argos das Fest der Hera feierte, mußte die Mutter der Jünglinge in den Tempel gefahren werden, die Zugtiere aber kamen vom Felde nicht rechtzeitig zurück. Da die Stunde drängte, traten die Brüder selber unter das Joch und zogen den Wagen, auf dem ihre Mutter saß. 45 Stadien liefen sie und gelangten zum Tempel. Das Volk von Argos trat herzu, die Männer lobten die Kraft der Jünglinge, und die Frauen priesen die Mutter, daß sie solche Kinder geboren hatte. In ihrer Freude trat sie vor das Bild der Göttin und betete, Hera möge ihren Söhnen das Beste gewähren, was ein Mensch erlangen könne. Nach diesem Gebet nahmen Kleobis und Biton am Opfer und am festlichen Mahl teil, dann legten sie sich im Tempel zur Ruhe nieder und wachten nicht mehr auf, es war dies ihr Lebensende. Die Argiver ließen Standbilder von ihnen herstellen und weihten sie nach Delphi, als Bilder edler und wackerer Männer.“ Herodot läßt diese Geschichte den Solon (um 590 v.Chr.) erzählen als ein Beispiel menschlichen Glücks, denn die Gottheit hatte diesen Brüdern mit dem frühen und schmerzlosen Tod eine besondere Gnade gewährt.
Solche Statuen archaischer Jünglinge, die man in Griechenland Kuroi nannte, wurden sowohl in Heiligtümern wie auch in Nekropolen gefunden. Mit der Grabstatue ehrte man den früh in der Blüte seiner Jahre Gestorbenen, und im Heiligtum konnte man mit einem solchen Bild der Kraft und Tüchtigkeit die Gottheit erfreuen. Die Weihung der Argiver in Delphi vereinigte in sich beide Absichten, denn einmal ehrte man auch in diesen Statuen junge Männer, die ein früher Tod ereilt hatte, zugleich aber bot ihr vorbildliches Verhalten Anlaß, der Gottheit ein Geschenk zu machen. Die Tüchtigkeit der Brüder bewegte die Zeitgenossen ebenso wie das sonderbare Walten und Eingreifen der Gottheit. Nicht zuletzt aber wandten sich die Argiver mit ihrem Weihgeschenk an die gesamte griechische Welt, indem sie die Statuen nicht etwa in ihrer Heimat, sondern im panhellenischen Heiligtum von Delphi aufstellten.
Als Kleobis wird gewöhnlich der im Abguß vorliegende, besser erhaltene der beiden Kuroi bezeichnet. Nur die Füße mit einem Teil der Unterschenkel fehlen. Ob die Füße in weichen Lederstiefeln steckend zu ergänzen sind, muß fraglich bleiben. Nicht sicher ist auch, ob zu diesem Kleobis die jetzt mit ihm verbundene Standplatte ursprünglich gehörte, denn die Figuren weisen dieselben
Maße auf und lassen sich auf der Basis auch auswechseln. Die Frage hat insofern Gewicht, als ihre Entscheidung bei der Rekonstruktion der Gruppe eine Rolle spielt, nicht hingegen in Bezug auf die Dargestellten, denn die Statuen wollen keine „Porträts“ im modernen Sinn des Wortes sein.
Kleobis und Biton sind in einem Schema dargestellt, das allen archaischen Kurosstatuen eigen ist: Aufrechten „Ganges“ stehen sie mit vorgesetztem linken Bein da, richten den Kopf geradeaus, winkeln die Arme leicht an und legen die Fäuste fest an die Oberschenkel. Zum Schema gehört auch die athletische Nacktheit des Körpers und das lange, der damaligen Mode entsprechende Haupthaar. Die griechischen Bildhauer haben den Typus bereits im 7. Jh.v.Chr. ausgebildet und bis in das frühe 5. Jh. in leichten Abwandlungen beibehalten. Im Unterschied zu den ägyptischen vergleichbaren Vorbildern stehen die griechischen Figuren ohne Rückenpfeiler frei im Raum. Ihre Körper sind Kraftträger und enthalten latent bereits eine Beweglichkeit, die in der klassischen Kunst dann im Kräftespiel des „Kontrapostes“ endgültig freigesetzt wird, während die archaische Form noch den Gesetzen der Achsialität, Symmetrie und Frontalität unterliegt. Umso bemerkenswerter sind die Verschiebungen und Asymmetrien, die bei näherem Zusehen auch die Kuroi bereits auszeichnen.
Das Werk des Polymedes muß bald nach 600 v.Chr. entstanden sein, etwa zu Lebzeiten des Solon, der damals die Geschicke Athens bestimmte. Im Vergleich zu jüngeren Kurosstatuen ist am Kleobis die gesamte Proportionierung als altertümlich zu bezeichnen, nämlich der kleine Rumpf im Gegensatz zu den kräftigen Gliedern und den breiten Schultern. Die Oberschenkel zeigen vor allem in der Seitenansicht ein auffallend starkes Volumen. Im Gesicht sitzen übermäßig große Augen, deren Brauen - ähnlich wie die Lippen - sehr kantig gebildet sind. Manche anatomische Details, wie den Rippenbogen hat der Bildhauer nicht plastisch modelliert, sondern nur durch eine Linie gekennzeichnet. Altertümlich wirkt auch die Anlage der Frisur. Im Vergleich zu älteren „dädalischen“ Köpfen ist aber das Haar differenzierter gestaltet; die zu Kompartimenten abgeschnürten Strähnen sind fein ziseliert und ihre Enden quastenförmig abgesetzt. Ein Reif hält die Haare oben, ein Band sie nochmals im Nacken zusammen. Die Stirn ziert eine Reihe aufgerollter Einzellocken.
In der plastischen Gesamtwirkung fällt vor allem die Blockhaftigkeit der Figur auf, ferner eine sehr straffe Führung der Konturen. Beides sind ebenfalls altertümliche Züge. Das kantige Umbrechen der Vorder- in die Seitenansicht rührt wahrscheinlich vom bildhauerischen Arbeitsprozeß her, denn die Statue wurde aus einem pfeilerartigen Block stufenweise „freigelegt“, wobei nur die achsenbezogenen Ansichten für die Gestaltung maßgebend waren. Später bemühte man sich in zunehmendem Maß, diese Kanten abzuarbeiten und dem Körper mehr Rundung zu geben. So entsteht der Eindruck, daß die Figur des Kleobis stark im Block verhaftet ist, während sich jüngere Kuroi aus ihm lösen.
In ihrer Vierkantigkeit und geballten Kraft verkörpert die Figur des Kleobis das Jünglingsideal ihrer Zeit; zugleich gehört das Massig-Schwere, Vierschrötige aber auch zu den Eigenheiten des dorisch-argivischen Stils, den sie vertritt. Attische und ionische Statuen der gleichen Zeit sind im Ganzen leichter und schlanker gebildet. Auch der Bruder des Kleobis wirkt nicht so kantig wie dieser selbst, so daß G. v. Kaschnitz hier einen ionischen Gehilfen des Polymedes am Werk sah.
Th. Homolle, Fouilles de Delphes IV 1 (1909) 5ff.
A. v. Premerstein, OJh. 13, 1910, 41ff. (Inschrift).
G. v. Kaschnitz-Weinberg, Festschrift D. M. Robinson I (1951) 525ff.
L. Alscher, Griechische Plastik 2,1 (1961) 85f. mit Anm. III 59.
H. Drerup, MarbWPr. 1970, 1 ff. (Rekonstruktion der Gruppe).
G.M.A. Richter, Kuroi2 (1970) 49ff. Nr.12.
R. Lullies-M. Hirmer, Griechische Plastik4 (1979) 18.