Die mit 1,25 m leicht unterlebensgroße Statue aus parischem Marmor wurde 1874 von den Berliner Museen aus Rom angekauft. Sie stellt eine junge Tänzerin dar, die einen bis zu den Waden reichenden Chiton und Sandalen trägt. Der linke Fuß berührt nur mit dem Ballen, das zurückgenommene rechte Bein nur mit den Zehen den Boden. Der Oberkörper schwingt nach rechts, wodurch die Hauptlast des Körpers optisch auf ihrer rechten Seite liegt. Dadurch drückt sich die lockere Beschwingtheit aus, die die Tänzerin kennzeichnet. Der Eindruck der labilen Körperhaltung wird in der rechten Seitenansicht durch die zurückgenommene linke Schulter noch verstärkt. Der dadurch entstehenden Drehung des Oberkörpers folgen die erhobenen Arme.
Der unter der Brust gegürtete Chiton ist von der rechten Schulter geglitten und entblößt die rechte Brust. Auch dort, wo das dünne Gewand den Körper bedeckt, verdeckt es weniger, als es umspielend betont.
Diese Statue soll nicht frontal gesehen werden; die Figur erschließt sich am besten aus einer leicht nach links von der Mitte versetzten Position des Betrachters. Das Original muß in Rom sehr beliebt gewesen sein, es sind uns nämlich noch vier weitere ebenfalls aus Rom und Umgebung stammende Repliken bekannt. Die Replik in Berlin gilt als die am besten ausgeführte und stammt aus hadrianischer Zeit. Dafür sprechen vor allem die scharfkantige Wiedergabe der Gewandfalten im Kontrast zu den glatten, am Körper anliegenden Partien. Diese „metallische“ Schärfe der Gewandfalten läßt zudem ein bronzenes Original hinter den Kopien vermuten.
Wie wird man sich dieses Original nun zu ergänzen haben? Am linken Schlüsselbein findet sich der Ansatz einer Stütze, die zu keinem der Arme geführt haben kann, sondern nur zu einem Gegenstand, den sie in einer der Hände hielt.
Die neben der Berliner Replik am vollständigsten erhaltene Figur stammt aus der Villa Hadriana bei Tivoli und befindet sich heute im Thermenmuseum in Rom. Sie überliefert uns die Haltung des rechten Armes, der demnach erst nach vorne geführt (wie man auch an der Berliner Replik erkennen kann) und im Ellenbogen nach links abgewinkelt wurde. Ein im Vergleich zu der Berliner Replik viel weniger dezent angebrachter, dicker Stützansatz befindet sich unterhalb der linken Brust und muß ebenfalls zu einem Attribut geführt haben. Die Hände sind leider auch an der Replik aus Tivoli nicht erhalten. Ebensowenig geben die drei übrigen, verkleinerten Repliken in Frankfurt, Paris und Wien, die neben ihrem schlechteren Erhaltungszustand auch stilistisch nicht an die Ausführungen in Rom und Berlin heranreichen, Aufschluß über die Handhaltung.
Das Laszive und Rauschhafte unserer Tänzerin läßt an eine Deutung als Mänade denken. Gemeinsam mit den Satyrn gehören sie zum Gefolge des Weingottes Dionysos und veranschaulichen mit ihrem meist rauschhaften Zustand das Wirken des Gottes. Zu ihren Attributen gehören ein Thyrsos (ein mit Weinlaub umrankter Stab) und Rhythmusinstrumente wie Tympanon (Tambourin), Krotola (Castagnetten) und Kymbala (Schallbecken). Häufig schwingen sie auch gefangene Tiere und Messer in ihren Händen oder haben sich gar schon deren abgezogenes Fell umgelegt. Ein sehr schönes Beispiel für die zahlreichen Darstellungen von Mänaden und Satyrn in der griechischen Kunst stellen die Bilder auf der Spitzamphora des Kleophrades-Malers in der Münchner Antikensammlung dar (Saal III Vitrine 10, 500-490 v.Chr.).
Die im Jahre 406/405 v. Chr. uraufgeführte Tragödie „Die Bacchen“ des Euripides vermittelt einen Eindruck davon, wie grausam man sich das Treiben der enthusiastischen Mänaden mitunter vorstellte: sie zerreißen den thebanische König Pentheus, da dieser sich gegen ihren Gott Dionysos aufgelehnt hatte.
Ob unsere Tänzerin eines der oben erwähnten Attribute in den Händen hielt, ist nicht mehr festzustellen. Die bei den Repliken an unterschiedlichen Stellen angebrachten Stützen lassen mehrere Möglichkeiten zu. Diels-Kiehl äußerte daher die Vermutung, es könne sich bei den einzelnen Repliken um unterschiedliche, vom jeweiligen Kopisten bevorzugte Attribute gehandelt haben; evtl. habe das Original überhaupt keine Attribute besessen. Anhand der erhaltenen Statuen ist jedenfalls eine Deutung als Mänade nicht zwingend notwendig. Sie könnte auch eine Doppelflöte gehalten haben und einfach nur eine Tänzerin darstellen. Mit der von Plinius (nat. hist. 34,63) erwähnten „Berauschten Flötenspielerin“ des spätklassischen Bildhauers Lysipp kann sie allerdings aus stilistischen Gründen nicht identifiziert werden.
Vielleicht spielt die heute nicht endgültig zu beantwortende Frage, ob es sich bei diesem Werk um eine Tänzerin oder Mänade handelt, auch gar keine so große Rolle für dessen Verständnis. Dem Künstler scheint es vielmehr um das Problem der Bewegung gegangen zu sein. Das häufige Vor und Zurück der gegenbewegten Figur in Verbindung mit der Torsion spricht jedenfalls für eine Datierung in hellenistische Zeit.
Motivisch verwandt ist die tanzende Mänade des Skopas aus spätklassischer Zeit, die sich in Dresden befindet (vgl. Abguß Inv. 86). Doch ist dort die Torsion konsequenter durchgeführt. Die Bewegung entwickelt sich in einer Richtung. Davon hebt sich die durch den verschobenen Oberkörper mehrmals unterbrochene Drehung unserer Tänzerin entschieden ab. Während die Mänade in Dresden auch in den Seitenansichten ihren „schraubenden“ Bewegungsablauf verfolgen läßt, scheint unsere Tänzerin nach hinten zu kippen.
Wir kennen einige bewegte Figuren aus hellenistischer Zeit, die belegen, daß man sich in dieser Epoche gerne mit der Problematik der Bewegung beschäftigte. Als Beispiele sei auf die Budapester Tänzerin (vgl. Abguß Inv. 87), die Mänaden auf dem Krater Borghese oder den „Schwänzchenhaschenden Satyr“ (vgl. Abguß Th 78) verwiesen. Dennoch fällt eine genauere Datierung innerhalb des Hellenismus aufgrund von mangelnden Vergleichsbeispielen recht schwer. Eine Entstehung im 3. Jh.v.Chr. ist möglich, doch setzt sich in der jüngeren Literatur eine Datierung in das späte 2. Jh.v.Chr. durch. Dazu paßt auch der in Vorder- und linker Seitenansicht durch einen flatternden Chitonzipfel verborgene nackte Glutaeus, den der Betrachter erst beim Umschreiten der Figur entdeckt. Derartige Überraschungseffekte waren im Späthellenismus sehr beliebt (vgl. den Schlafenden Hermaphroditen).
Helbig4 III (1969) Nr. 2286 (v. Steuben);
P.C. Bol, Liebieghaus Bd. 1 (1983) 166ff. Nr. 50;
R. Kekulé, Die tanzende Mänade in den königlichen Museen zu Berlin (1894);
O. Vasori in: Museo Nazionale Romano I1 (1979) 129ff. Nr. 94;
M. Bieber, Sculpture of the Hellenistic Age 2(1961) 39;
Chr. Dierks-Kiehl, Zu späthellenistischen bewegten Figuren der zweiten Hälfte des 2. Jh. (1973) 4 ff.
Zum Tanz: F. Wege, Der Tanz in der Antike (1926);
M. Emmanuel, La Danse Grecque antique d'après les monuments figurés (1896).